Der Tote vom Kliff
leichtsinnig.
Lüder atmete tief durch. Nirgends war etwas zu sehen.
Er sah noch einmal in die Höhe.
Jetzt erkannte er, woher das Quietschen kam. An einem
wie schräg gegen den Hochofen gelehnten Mast wurden Loren nach oben befördert.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Skip. Ein Schrägaufzug. Damit wird der Möller
hochgeschickt.«
»Wer ist Möller?«
Jetzt zeigte sich der Hauch eines überlegenen Lächelns
auf Poßnecks Gesicht.
»Nicht wer, sondern was. Das sind die Rohstoffe, mit
denen der Hochofen bestückt wird. Sie bestehen im Wesentlichen aus Eisenerz,
das mit Zuschlagstoffen wie Kalk und Kies versetzt ist. Das geschieht im
Wechsel mit Koks.«
»Kann man damit hochfahren?«
Poßneck tippte sich gegen die Stirn. »So blöd kann man
gar nicht fragen. Die Hunte, also der Förderkübel, führt direkt zur
Gichtglocke, das ist die Einfüllöffnung.«
Das war auch keine Fluchtmöglichkeit, sah Lüder ein.
Er musste sich eingestehen, dass er Balzkowski verloren hatte.
»Schön«, sagte er. »Gehen wir.«
Poßneck atmete tief durch, sagte aber nichts. Sie
drehten sich um, als es hinter ihnen laut polterte. Beide fuhren erschrocken
zusammen und sahen einen über den Asphalt scheppernden gelben Schutzhelm.
»Wo kommt der her?«, fragte Poßneck erstaunt, während
Lüder den angerissenen und arg zerschrammten Helm aufhob. Auf der Innenseite
fand er einen von Schweiß durchtränkten Leukoplaststreifen, auf dem in
verwaschener Handschrift »L. Balzkowski« stand. Instinktiv sahen beide Männer
nach oben. Nichts war zu sehen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, stammelte Poßneck.
»Wie kann man den Aufzug stoppen?«, schrie Lüder.
Poßneck zeigte auf einen Blechkasten am Fuß des
Aufzugs. »Dort ist ein Nothalt.«
Lüder lief zu der Stelle und schlug auf den großen
roten Knopf. Mit einem Kreischen stand die Anlage.
»Das glaube ich nicht«, sagte Poßneck, der
kreidebleich geworden war.
»Geht es dort aufwärts?« Lüder zeigte auf die
Außentreppe, die er vorhin entdeckt hatte.
»Das ist zu gefährlich. Warten Sie, bis die
Werksfeuerwehr da ist«, mahnte Poßneck.
Doch Lüder ließ sich nicht abhalten. Er hastete die
Metallstufen hoch und ließ dabei die Hände über die rissigen Handläufe gleiten.
Seine Schuhe hallten auf den Metallstufen. Durch die offenen Tritte sah er den
Boden unter sich entschwinden. Mit jedem weiteren Schritt merkte er, wie seine
Beine schwerer wurden und ihm die Anstrengung die Luft nahm. Und auf jedem
Absatz, auf dem er die Richtung änderte, wurde ihm bewusst, dass er immer höher
kletterte. Für jemanden, der es nicht gewohnt ist, sind neunzig Meter eine
stattliche Höhe. Je weiter er nach oben kam, umso lauter wurde das Heulen. Es
klang, als würde ein Sturm um ein einsam auf einer Hallig gelegenes Haus
pfeifen.
Lüder rief sich das wenige in Erinnerung, was er von
der Eisengewinnung noch wusste. Von unten wird heiße Luft, der sogenannte Wind,
eingeblasen, der in Verbindung mit dem Koks das Erz zum Schmelzen bringt. In
einem Hochofen herrschen bis zu zweitausendvierhundert Grad. Es ist im Großen
das gleiche Prinzip wie beim Gartengrill, wenn man mit einem Blasebalg die
Grillkohle zum Glühen bringen will.
Er hatte inzwischen zwei Drittel der Höhe erklommen
und war zusehends langsamer geworden, als er bei einem unvorsichtigen Blick in
die Tiefe sah, dass Poßneck nicht mehr allein war. Mehrere Arbeiter hatten sich
um ihn geschart, riefen Lüder etwas zu, was er nicht verstand, und
gestikulierten wild.
Lüder rutschte auf dem feuchten Metall ein wenig aus,
vielleicht war es auch ein Straucheln, als ihm die ungewohnte Höhe bewusst
wurde. Er packte mit beiden Händen fest an die Handläufe und spürte den
stechenden Schmerz der rauen und aufgerissenen Handflächen, die er zu schnell
über das abgeblätterte und rissige Geländer gezogen hatte.
Kurz unterhalb der Spitze des Hochofens führte ein
schmaler Steg rund um die Anlage. Der Umgang war durch ein Geländer gesichert,
das aus zwei quer laufenden Streben bestand, die in Abständen von etwa zwei
Metern durch Pfosten gehalten wurden.
Lüder bewegte sich vorsichtig vorwärts, mehr tastend
als gehend. Er setzte einen Fuß vor den anderen, suchte den nächsten Punkt zum
Stehen und sah dabei zwangsläufig in die Tiefe. Ein eiskalter Schauder
durchlief ihn. Wer es nicht gewohnt ist, dem nötigt die Höhe Respekt ab. Der
Weg schien ihm unendlich, bis er die Seite erreicht hatte, von der aus er einen
Blick auf die
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