Der Tote vom Kliff
EINS
Noch war die Sonne nicht zu sehen, aber der rote
Schimmer im Osten ließ erahnen, dass sich der neue Tag mit Macht anbahnte. Am
Himmel zeigte sich ein blaugrauer Dunstschleier, der in den nächsten Stunden
einem tiefen Blau weichen würde, das durch die oft den Himmel verzierenden
weißen Schäfchenwolken nicht getrübt werden würde. Es war ablaufendes Wasser,
Ebbe, würde der unbefangene Besucher der Insel sagen und voller Faszination dem
grandiosen Schauspiel der Natur an der Westküste folgen. Nur wenige richteten
den Blick gen Osten über das Watt, wo sich in der Ferne als schmaler Streifen
die dänische Küste abzeichnete. Davor schimmerten die ersten Sonnenstrahlen in den
Prielen, die immer noch Wasser führten und nur langsam dem auftauchenden Watt
wichen.
Für all das hatte Imke Feddersen keinen Blick. Sie war
um sechs Uhr in Niebüll in den Zug gestiegen und hatte die knappe halbe Stunde,
die die Nord-Ostsee-Bahn für die Passage des Hindenburgdamms zur Insel Sylt
benötigt, mit Dösen verbracht. Während Urlauber die Fahrt durch das Wattenmeer
genossen oder vom oberen Deck des Autoshuttles endlich durchatmeten, weil sie
Wartezeit und Autoverladung überwunden hatten, sah kaum jemand der wenigen
Fahrgäste des frühen Zuges aus dem Fenster. Es waren überwiegend Pendler, die
auf Sylt arbeiteten und auf dem Festland wohnten. Imke Feddersen gehörte zu
ihnen.
Am Bahnhof Westerland hatte sie ihr von der
salzhaltigen Luft gezeichnetes Fahrrad bestiegen, das sie dort auf dem
Bahnhofsvorplatz mangels anderer Abstellmöglichkeiten am Metallschutzgitter
eines Baumes angeschlossen hatte, der von zwei Telefonsäulen eingerahmt wurde.
Anschießend war sie sechs Kilometer nordwärts gestrampelt. Zu dieser frühen
Stunde begegnete man wenigen Menschen auf Sylt. Sechs Uhr ist nicht die Zeit
der Gäste oder Insulaner. Der Puls der Insel beginnt erst später zu schlagen.
Imke Feddersen war es gewohnt, gegen den Wind zu
strampeln, von dem Besucher der Küste zu berichten wussten, dass er Radfahrern
grundsätzlich entgegenbläst, gleich welche Himmelsrichtung man fährt. Sie war
hinter der Polizeiwache abgebogen, hatte ein Siedlungsgebiet umrundet und war
dann der Hauptstraße gefolgt, war an Wenningstedt und dem Kampener Zentrum
vorbeigeradelt und schließlich in die Kurhausstraße eingebogen, die als
Sackgasse direkt vor den Dünen endete. Ihre Wangen glühten vom Radfahren,
obwohl es an diesem Aprilmorgen nur wenig über null Grad war, als sie ihr Ziel
erreichte. Am Ende der Straße gab es einen kleinen Wendehammer. Links
versperrte eine Schranke die Zufahrt zu einem Parkplatz. Drei große, mit vier
Seitenflügeln und einem Innenhof gestaltete Reetdachhäuser direkt an der
Dünenkette blockierten hier den Zugang zum Wasser. Spaziergänger mussten
entweder rechts einem Wanderpfad folgen, der sie in Richtung des Restaurants
Sturmhaube führte, oder zur Linken den auch als Reitweg ausgeschilderten Weg
nutzen, der am Fuß der Uwe-Düne endete, die mit über fünfzig Metern die höchste
Erhebung Sylts ist.
Direkt neben der Tiefgarage, die in dieser Region
zweifelsfrei einen Luxus darstellte, verkündete ein Schild, dass es sich um
Privatbesitz handelte und der Zutritt verboten sei. Gleichwohl stand die
windschiefe Friesenpforte aus weißem Holz sperrangelweit offen. Während die
beiden seitlichen Häuser jeweils mehrere Appartements unter ihrem Reetdach
beherbergten, unterschied sich das mittlere im Äußeren nicht von den Nachbarn,
obgleich es innen komplett umgebaut und nach den Wünschen seines Besitzers neu
gestaltet worden war. Der Steinwall und die dicht gepflanzten Heckenrosen
bildeten einen natürlichen Schutz vor neugierigen Besuchern. Die stacheligen
Pflanzen waren nicht nur zur Blütezeit eine Augenweide, sondern zogen auch mit
ihren roten Hagebutten im Herbst die Blicke an. Imke Feddersen erinnerten sie
an ihre Kindheit, in der die Hagebutte gemeinhin nur »Juckpulver« hieß.
An der Haustür fehlte das Namensschild. Kaum eines der
Anwesen in dieser Gegend war mit dem Namen des Eigentümers gekennzeichnet. Die
Eingeweihten wussten, wer in den prachtvollen Häusern residierte, wer dort zu
Gast war oder sich Eigner nennen durfte.
Imke Feddersen öffnete die verschlossene Pforte, schob
ihr Rad durch die Öffnung im rustikalen Friesenwall und umrundete das Gebäude.
Der Eingang für das Personal befand sich ein wenig versteckt an der Querseite.
Sie lehnte ihr Rad gegen die Wand, nahm ihren Leinenbeutel aus
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