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Der Tote vom Maschsee

Der Tote vom Maschsee

Titel: Der Tote vom Maschsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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erfasst, oder die tiefe, existenzielle Angst
jedes Mal danach, dass er nicht mehr zurückkommen wird. Nun beginnt das bange
Lauern, was als Nächstes geschehen wird. Vielleicht hat sie Glück, vielleicht
bedeutet das Licht, dass er etwas zu essen und zu trinken auf die Treppe stellt
und sagt: »Zehn Minuten.« Dann weint sie vor Erleichterung und ist voller
Dankbarkeit für das Essen und die paar Minuten Helligkeit für sich allein. Zu
sehen gibt es nackte Betonwände, ein paar seltsame Röhren, die Matratze, den
Stuhl, den Eimer. Und die Kleider, die er mitbringt und die sie abwechselnd
tragen muss. Nie wieder in ihrem Leben wird sie ein Kleid tragen.
    Zuweilen geschieht es, dass er auf der Treppe
stehen bleibt, den eiskalten Wasserstrahl auf sie richtet und ihr ein Stück
Seife zuwirft.
    Â»Waschtag.«
    Aber das ist erträglich im Vergleich zu dem, was
geschieht, wenn er die zwölf Stufen herunterkommt.
    Â»Sie sind sehr mutig«, sagt Oda.
    Elise Wenzel öffnet die Augen und schaut die Frau, die da neben ihr
sitzt, verwundert an. Eine seltsame Polizistin. Welche Kommissarin sagt schon
zu einer Mordverdächtigen Sätze wie: »Niemand darf Ihnen verbieten zu reden,
und niemand darf Ihnen sagen, wann sie reden sollen. Nicht Dr. Fender und nicht
die Polizei. Das entscheiden Sie allein.«
    Â»Ich? Warum?«, fragt Elise Wenzel ehrlich erstaunt. Noch nie hat sie
jemand mutig genannt.
    Â»Sie sind ihm entkommen. Dazu gehört Mut. Er hat sie bestimmt nicht
freiwillig gehen lassen, oder?«
    Elise schüttelt langsam den Kopf.
    Nachdem er sie weggelegt hat wie ein
benutztes Handtuch, lauscht sie den Schritten auf den Betonstufen hinterher.
Zwölf Stufen, die Klinke, die Türangeln, das Geräusch der zufallenden Tür,
Stahl auf Stahl. Das Licht geht aus und hinterlässt absolutes Dunkel. Es ist
eine Dunkelheit, wie sie sie nie zuvor erlebt hat. Sie fühlt sich zäh an, und
manchmal raubt sie ihr fast den Atem. Nun muss das Klicken des Riegels folgen.
Sie horcht. Da ist nichts. Er hat den Riegel nicht vorgeschoben! Sie
unterdrückt den Impuls, sofort die Treppen hinaufzukriechen. Nein, sie muss
warten. Aber wie lange? Sie hat jedes Zeitgefühl verloren, hat keine Ahnung, ob
es draußen Tag ist oder Nacht. Sie weiß auch nicht, wie viele Tage oder Wochen
sie schon hier ist.
    Um die Zeit irgendwie greifbar machen zu können,
entschließt sie sich, drei Mal bis tausend zu zählen. Es ist ein Lotteriespiel.
Vielleicht verlässt er ja nie das Haus, vielleicht steht er höhnisch feixend
vor der Tür und wartet nur darauf, sie zu bestrafen. So wie am Anfang, als sie
gegen das Verbot verstoßen und mit ihm geredet hat, und das eine Mal, als sie
ihn gebissen hat. Danach hat er sie geschlagen, ihr die Matratze weggenommen,
und sie hat so lange nichts zu essen und zu trinken bekommen, bis sie das Leder
ihrer Sandalen zerkaut hat.
    â€¦ neunhundertachtundneunzig,
neunhundertneunundneunzig, tausend.
    Sie steht von der Matratze auf, tastet sich die
kalten Stufen hinauf und legt die Hand auf die Klinke.
    Lieber Gott …
    Das Wunder geschieht, die schwere Tür bewegt
sich, Licht schneidet in das Dunkel, das Kreischen der Angeln erscheint ihr
ohrenbetäubend laut. Ganz langsam drückt sie die Stahltür auf, ihr Herz schlägt
so heftig, dass es schmerzt. Sie bekommt kaum Luft. Dann ist der Spalt breit
genug, dass sie hindurchschlüpfen kann. Vor ihr liegen drei Stufen. Tageslicht
fällt durch die Scheibe einer Tür. Ganz langsam öffnet sie sie. Ein Flur. Eine
Garderobe ohne Kleider, zwei Bierkisten, ein paar Farbeimer. Die Wände sind mit
einer verblassten Tapete aus braunen und grünen Streifen bekleidet, unter ihren
bloßen Füßen spürt sie rissiges Linoleum. Rechts und links gehen je zwei Türen
ab. Eine steht ein Stück offen. Sie hält die Luft an, lauscht. Alles ist still.
Ist er fort? Schläft er? Oder ist das eine Falle? Eine Welle der Angst
überspült sie, nimmt ihr den Atem. Wenn er sie hier entdeckt, dann ist das ihr
Ende. Sie verspürt den Impuls, wieder zurück in den Keller zu schlüpfen. Aber
eine innere Stimme sagt ihr, dass sie es wagen muss, dass dies ihre einzige
Chance ist. Da drüben, nur drei, vier Meter entfernt, liegt die Freiheit. Sie
kann sie sehen hinter dem geriffelten Glas: ein tiefes Grün und ein
verwaschenes Stück Himmel. Lautlos huscht sie über den Flur,

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