Der Tote vom Maschsee
sagt Fernando betrübt.
Bei den Pinguinen ist kein Personal zu sehen, aber bei den Seelöwen
treffen sie auf einen Tiertrainer, der gerade Heringe an einen Pulk bettelnder
Seelöwen verteilt. Ihre schwarzen Leiber glänzen in der Sonne. Auf dem Wasser
schwimmen Bälle, vor ihm liegen Tauchringe und anderes Seelöwenspielzeug.
»Lise? Die ist gerade eben weg.«
»Wohin?«, fragt Jule.
»Sie hat sich für zwei Stunden freigenommen. Muss zum Zahnarzt. Das
hat sie jedenfalls gesagt.«
»Nun rase doch nicht so, du fährst noch jemanden über den
Haufen«, schimpft Jule.
»Ich pass schon auf.«
»Vielleicht sollten wir die Fender erst mal anrufen und fragen, ob
die Wenzel wirklich bei ihr ist.«
»Und wenn sie es mitkriegt und durchdreht? Dann haben wir eine
Geiselsituation. Vergiss nicht, dass die Frau eine Schusswaffe im Handtäschchen
hat.«
Jule gibt es auf. Bitteschön, denkt sie, soll er sich doch
lächerlich machen und die Praxis stürmen, während sich die Verdächtige
vielleicht gerade den Zahnstein entfernen lässt. Allerdings, falls doch â¦
Als sie sich dem Stadtteil Kleefeld nähern, fragt Jule: »Was hältst
du davon, Verstärkung anzufordern?«
»Brauchen wir nicht. Wir nutzen das Ãberraschungsmoment«, meint
Fernando.
Offenbar will er unbedingt den Ritter auf dem weiÃen Pferd geben,
erkennt Jule und vergewissert sich, dass ihr Holster richtig sitzt. Wenn das
mal gut geht.
Fernando parkt den Dienstwagen direkt vor der Tür im Halteverbot.
Sie klingeln bei der HNO-Praxis im Parterre, und als der Summer ertönt,
hastet Fernando geräuschlos die Treppe hinauf. Jule eilt ihm hinterher. Jetzt
ist auch sie aufgeregt. Die Aussicht, eine Doppelmörderin festzunehmen, hat in
ihr einen Adrenalinschub ausgelöst.
»Willst du sie eintreten oder darf ich?«, fragt Jule vor der Tür zur
Praxis.
»Quatsch. Die krieg ich mit meiner Payback-Karte auf.« Tatsächlich
schnappt das Schloss nach einigen mit souveräner Hand ausgeführten
Manipulationen auf.
Besser, man fragt nicht nach, wo er das gelernt hat, beschlieÃt
Jule.
Wie die Schleichkatzen nähern sie sich der Tür zu Dr. Fenders
Sprechzimmer, wobei sie das knarrende Eichenparkett still verfluchen.
Gedämpft hört man die Stimme von Dr. Fender, aber der Inhalt ihrer
Worte ist nicht zu verstehen. Dann antwortet eine andere, weibliche Stimme.
Fernando sieht Jule fragend an. Die zuckt die Schultern, dann gibt
sie Fernando ein Zeichen zu warten. Vorsichtig geht sie ein paar Schritte
zurück. Fernando verzieht das Gesicht bei jedem Knacken der Dielen.
Jule ist bei der Garderobe angelangt. Neben einem Trenchcoat hängt
eine dünne Jacke aus braunem Wollstoff, die einen dumpfen Tiergeruch verströmt.
Sie hebt den Daumen und nickt.
Die Tür wird aufgerissen, kracht gegen die Wand, und im nächsten
Moment stehen Oberkommissar Rodriguez und Kommissarin Wedekin mit gezogenen
Waffen im Raum. Elise Wenzel schreit erschrocken auf, duckt sich instinktiv und
presst die Hände vors Gesicht.
Liliane Fender fährt aus ihrem Sessel in die Höhe. »Was, zum Teufel,
soll das?«
»Elise Wenzel«, donnert Fernando. »Legen Sie die Hände hinter den
Kopf und stehen Sie langsam auf.«
Die Frau wirft einen verängstigten Blick auf Dr. Fender, als suche
sie deren Zustimmung.
Fernando schnappt sich Frau Wenzels Handtasche und wirft sie Jule
zu. Jule steckt ihre Waffe weg und durchsucht die Tasche. Elise Wenzel
verkrallt die Hände in ihren braunen Locken und starrt verängstigt auf
Fernandos Dienstwaffe.
»Die ist sauber«, sagt Jule zu Fernando, woraufhin auch der seine
Waffe verschwinden lässt. Jule gibt die Tasche Elise Wenzel zurück, die noch
immer mit erhobenen Armen in ihrem Stuhl kauert.
»Darf ich fragen, was dieser alberne Rambo-Auftritt hier zu bedeuten
hat«, sagt Liliane Fender mit schneidender Stimme. Ihre Gletscheraugen
schleudern wütende Blicke um sich, die in erster Linie Fernando treffen.
Niemand antwortet ihr.
»Frau Wenzel, Sie dürfen die Hände wieder herunternehmen. Stehen Sie
bitte auf, wir müssen Sie bitten, mit uns zu einer Vernehmung zu kommen«, sagt
Jule zu Elise Wenzel, die wiederum ihre Psychiaterin vorwurfsvoll ansieht.
»Kennst du einen Anwalt?«, fragt Dr. Fender.
Elise Wenzel hat sich aus ihrem Stuhl erhoben. Sie schüttelt
Weitere Kostenlose Bücher