Der Tote vom Maschsee
leichter zu beherrschen. Das
hat uns ja der Klerus Jahrhunderte lang vorexerziert. Aber dann hat Ihre
Tochter bei den Leuten von Pro victim die Hilfe
gefunden, die Sie ihr verweigert haben.«
Fernando wird zusehends unruhiger. Sind das etwa die
Deeskalationsstrategien, die sie den Anwärtern neuerdings beibringen? Oder
denkt Jule, das da unter ihrer Nase sei eine Spielzeugpistole? Wäre nur Oda
hier, wünscht sich Fernando inständig. Die würde sicher die richtigen Worte
finden, anstatt diese Furie noch mehr zu provozieren.
»Haben Sie gewusst, dass Elise diesem Michael Strauch einen Brief
ins Gefängnis geschrieben hat?«, fragt Jule nun.
Obwohl Frau Wenzel diese Frage nicht beantwortet, ist ihr die
Ãberraschung deutlich anzusehen.
»Er liegt bei uns auf dem Dezernat. Stellen Sie sich vor: Sie
verzeiht ihm darin.«
»Sie lügen«, zischt Frau Wenzel und zielt mit dem Lauf der Pistole
wieder auf Jule.
»Und wer weiÃ, wenn sie erst einmal eine Therapie gemacht hätte,
dann hätte sie womöglich erkannt, was Sie ihr angetan
haben. War es das, wovor Sie sich in Wirklichkeit gefürchtet haben?«
»Sie sind ja verrückt!«
Der Meinung ist inzwischen auch Fernando, der die Szene mit noch
immer erhobenen Händen und zunehmender Besorgnis beobachtet.
»Sie sind eine lausige Mutter, Frau Wenzel, Sie sollten sich
schämen! Elise ist eine starke, wunderbare Frau. So eine Tochter verdienen Sie
gar nicht.«
Frau Wenzel schnappt vor Empörung und Verblüffung nach Luft. »Seien
Sie still«, presst sie hervor.
»Und ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie die kleine Birte Lahm auf
dem Gewissen haben?«, setzt Jule noch einen drauf.
»Wen?«, fragt Frau Wenzel irritiert.
»Das Mädchen, das Strauch ein Jahr danach umgebracht hat. Hätten Sie
Ihre Tochter nicht zum Schweigen verdammt, würde das Mädchen heute noch leben.
Es ist Ihre Schuld! Sie haben diese Familie zerstört, Sie sind ein
egoistisches, bigottes Biest. In Wahrheit sind Sie kein bisschen besser als
dieser Strauch. Man kann nur hoffen, dass Sie mit ihm zur Hölle fahren!«
Jule ist nun bis auf einen guten Meter an Frau Wenzel herangetreten.
Die beiden fixieren einander, in Frau Wenzels Augen steht blanker Hass. Die
Pistole in ihren Händen zittert. Fernando misst mit den Augen den Abstand
zwischen sich und der Frau: gute drei Meter.
Er setzt gerade zum Sprung an, als vom Flur her eine sonore Stimme
sagt: »Da hat sie völlig recht!«
Frau Wenzel fährt herum. Jule packt die Hand mit der Pistole und
reiÃt den Arm nach oben. Ein Schuss kracht ohrenbetäubend durch den Raum, von
der Decke spritzt Putz nach allen Seiten. Ein FuÃfeger von Jule bringt Frau
Wenzel aus dem Gleichgewicht. Im selben Moment stürzt sich mit einem
Hechtsprung Fernando auf die Frau und bringt sie zu Fall. Die Pistole
schlittert über den Teppich unter den Schreibtisch, wo Jule sie aufhebt.
Fernando dreht Gertrud Wenzel die Arme auf den Rücken, während Hauptkommissar
Völxen der Dame Handschellen anlegt. Dann hilft er ihr auf die Beine und klärt
sie über ihre vorläufige Festnahme wegen des Verdachts auf zweifachen Mord und
Mordversuch sowie über ihre Rechte auf.
Frau Wenzel sagt keinen Ton mehr.
»Fernando, schaff sie raus. Die Streife ist schon unten«, ordnet
Völxen abschlieÃend an.
Kommissar Rodriguez fasst die widerspenstige Frau Wenzel am Arm und
führt sie aus der Wohnung. Beim Hinausgehen flüstert er Jule zu: »Das mit der
Hölle war ein bisschen dick aufgetragen.«
Samstag, 28. April
Die Morgensonne scheint auf den Frühstückstisch, wo die
Butter unbemerkt vor sich hin schmilzt. Veronika Kristensen ist in die Lektüre
der Hannoverschen Allgemeinen vertieft.
Neuer
Prozess gegen Michael. S.
Nach
fast 17 Jahren hat sich eine junge Frau gemeldet, die im September 1990 drei
Wochen lang in der Gewalt von Michael S. war. S., der diesen Tatvorwurf bislang
leugnet, konnte durch die Narbe einer Bisswunde, die ihm sein damaliges Opfer
beigebracht hat, überführt werden. Die damals 16-Jährige war von M. drei Wochen
lang in dem unterirdischen Atombunker eines Gehrdener Bungalows gefangen
gehalten worden. Nur durch eine Unachtsamkeit von S. gelang ihr die Flucht. Aus
Scham hat die heute 33-Jährige jedoch jahrelang geschwiegen. Die
Staatsanwaltschaft ermittelt nun erneut wegen Entführung, Freiheitsberaubung
und
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