Der Totenleser
Wasser ausgeblichenen schwarzen Kunstledergürtel hing eine Messergürteltasche aus Leder. Ein dazugehöriges Messer gab es nicht.
Während der Leichenschau erhielt einer der anwesenden Ermittler den Anruf eines Kollegen, der wichtige neue Informationen hatte:
Alfred Wehnert, der Vater von Holger Wehnert, hatte elf Tage zuvor bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Dabei hatte er unter anderem erzählt, dass sich sein Sohn in den letzten Wochen vor seinem Verschwinden sehr eigenartig und völlig anders als sonst verhalten habe: Holger Wehnert rief seinen Vater in dieser Zeit einige Dutzend Male an, manchmal auch mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden und behauptete immer wieder und »in wirren Sätzen«, dass verschiedene Personen ihn unablässig beobachten und verfolgen würden. Sein Vater hatte ihm anfangs geraten, zur Polizei zu gehen, doch das lehnte Holger Wehnert strikt ab. Seine Anrufe wurden von Mal zu Mal bizarrer, bis er irgendwann die Vermutung äußerte, bei seinen Verfolgern könnte es sich um Agenten eines ausländischen Geheimdienstes handeln, die ihn rekrutieren und im Falle seiner Weigerung ganz sicher töten wollten. Daraufhin riet sein Vater ihm dringend, einen Nervenarzt aufzu suchen. Kurz darauf rissen die befremdlichen Anrufe seines Sohnes so unvermittelt ab, wie sie begonnen hatten.
Bevor Alfred Wehnert seinen Sohn schließlich bei der Polizei als vermisst meldete, hatte er noch drei Tage lang vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Doch konnte er ihn weder telefonisch erreichen, noch traf er ihn in seiner Wohnung an. Auch in dem Tonstudio, in dem Holger Wehnert als Tontechniker arbeitete, wusste keiner der Kollegen etwas über seinen möglichen Verbleib – er war seit über einer Woche nicht mehr zur Arbeit erschienen. Das alles hörte sich einigermaßen undurchsichtig an, und weder die Ermittler noch ich wussten so recht, was wir von der Geschichte halten sollten.
Immerhin hatte der Vater bei der Vermisstenanzeige zwei wertvolle Hinweise gegeben, an denen wir überprüfen konnten, ob es sich tatsächlich um seinen Sohn handelte. Holger Wehnert besaß zwei auffällige körper liche Merkmale: einen in seine rechte Leistengegend tätowierten blauen Delphin und eine dritte Brustwarze unter seiner eigentlichen linken Brustwarze.
Solche zusätzlichen Brustwarzen befinden sich meist etwas ober- oder unterhalb der normalen Brustwarze, machen keinerlei Beschwerden und bedürfen keiner operativen Therapie (es sei denn, die oder der Betroffene wünscht die Entfernung aus kosmetischen Gründen). Der medizinische Fachterminus für zusätzliche Brustwarzen ist »akzessorische Mamille« (vom lateinischen accedere = hinzukommen und mamma = Brust). Vielleicht kennen Sie ja den schon fast vierzig Jahre alten James-Bond-Streifen Der Mann mit dem goldenen Colt .
Der von Christopher Lee gespielte Auftragskiller und Bond-Gegenspieler Scaramanga tritt nicht nur dadurch hervor, dass er seine Opfer mit einer goldenen Pistolenkugel aus einer goldenen Pistole erschießt, sondern er hat auch eine akzessorische Mamille. Diesen Umstand nutzt Roger Moore alias James Bond aus, indem er sich ein Plastikimitat dieser zusätzlichen Brustwarze auf die Brust klebt und sich so als Scaramanga ausgibt.
Bei unserem Toten war die dritte Brustwarze allerdings echt, es handelte sich also zweifelsfrei um Holger Wehnert, zumal auch das Tattoo vorhanden war. Ohne den entsprechenden Hinweis hätte man bei der Leichenfäulnis des Toten diese akzessorische Mamille allerdings auch für einen kleinen, die Hautoberfläche etwas überragenden Leberfleck halten können.
Nachdem nun auch die Identität eindeutig geklärt war, begannen wir mit der eigentlichen Obduktion.
Wasserleichen sind wirklich kein schöner Anblick, und der vor mir auf dem Obduktionstisch liegende Holger Wehnert machte hierbei keine Ausnahme. Ganze Flächen seiner Haut waren graugrün verfärbt, teilweise hatten sich Hautpartien abgelöst und hingen am Körper wie dünne, dunkle Flickenteppiche. An der Haut von Händen, Füßen und Ohren, aber auch über den Knien und Ellenbogengelenken hatte sich »Waschhaut« gebildet, die jeder – allerdings in deutlich abgeschwächter Form – aus eigener Erfahrung kennt, wenn er sich mal längere Zeit in der Badewanne, dem Schwimmbad oder im Meer aufgehalten hat. Waschhaut entsteht dadurch, dass die oberste Hautschicht, die aus abgestorbenen Hautzellen bestehende Hornhaut, aufquillt und sich
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