Der Totenleser
Messers, wie sie beim Selbst-Zustechen zu erwarten sind – vorausgesetzt, Holger Wehnert war Rechtshänder.
Als Todesursache konnten wir »ein inneres Verbluten durch Herz- und Lungenstich« festhalten. Sowohl die Herzstichverletzung als auch der Stich in die rechte Brusthöhle mit Verletzung der rechten Lunge waren geeignet, den Tod innerhalb kürzester Zeit herbeizuführen. Holger Wehnert konnte die Verletzungen bestenfalls wenige Minuten überlebt haben. Allerdings war nicht auszuschließen, dass er, unmittelbar nachdem er sich die Stichverletzungen selbst zugefügt hatte, ins Wasser gestürzt und dort ertrunken war, bevor die Stiche ihn ge tötet hätten. Das hatte aber auch keine Relevanz für die weiteren Ermittlungen.
Relevant war das zentrale Obduktionsresultat: Es war Suizid, kein Mord.
Nachdem ich die Obduktion von Holger Wehnert beendet hatte, diskutierte ich den Fall mit der anwesenden Staatsanwältin und den beiden Beamten der Mordkommission. Währenddessen wog eine Sektionsassistentin die einzelnen Organe, trug die Gewichte in ein Protokoll blatt ein und ließ die Organe danach in der geöffneten Brust- und Bauchhöhle des Leichnams verschwinden, um diesen später mit einer Naht zu verschließen.
Wir waren uns einig, dass es sehr gut möglich war, dass die Tatwaffe aus dem leeren Messertäschchen an Wehnerts Gürtel stammte, aber das zu beweisen würde wohl nicht mehr möglich sein. Das Hafengelände abzusuchen oder gar im Hafenbecken von Polizeitauchern danach suchen zu lassen erschien aussichtslos. Da es sich nach dem Ergebnis der Obduktion um einen Suizid handelte, interessierte die Ermittler auch weniger die Tatwaffe als das eigentliche Motiv für diesen so extrem brutal ausgeführten Freitod.
Dass sich Wehnert die Schnittverletzungen am Handgelenk selbst zugefügt haben musste, war aufgrund ihrer Beschaffenheit für alle Beteiligten leicht nachzuvollziehen. Einem sich wehrenden Opfer gegen seinen Willen mehrere Schnittverletzungen in solch einheitlicher Anordnung und in der gleichen Tiefe – also mit derselben Intensität und Kraft – beizubringen ist nicht möglich.
Schwerer zu akzeptieren waren die Stichverletzungen in der Brust. Einer der Kommissare fragte dann auch, ob es denn überhaupt möglich sei, dass sich ein Mensch viermal ein Messer in die Brust rammt, zweimal davon mit so großer Wucht wie hier. Für jemanden, der nicht ständig mit außergewöhnlichen Todesarten und -umständen zu tun hat, ist ein derart brutales Vorgehen kaum vorstellbar. Fakt ist aber, dass wir bei Suiziden noch ganz andere Folgen von Gewaltexzessen gegen den eigenen Körper zu sehen bekommen. Mehrfach haben wir in den letzten Jahren in der Berliner Rechtsmedizin Suizidenten untersucht, die sich selbst zehnmal oder öfter tief in die Kehle geschnitten hatten, bis diese schließlich durchtrennt war, oder sich mehrfach in Kopf und Brust schossen, weil die ersten Schüsse nicht tödlich waren – jedenfalls nicht sofort. Natürlich besteht in allen diesen Fällen zunächst immer der Verdacht auf ein Tötungsdelikt, und nur eine Obduktion kann letztlich Klarheit bringen, was geschehen ist.
Trotzdem stellt sich natürlich immer die Frage: War um tötet sich jemand auf derart brutale Weise? Gab es in unserem Fall einen direkten Zusammenhang zu dem, was Holger Wehnert seinem Vater am Telefon erzählt hatte?
»Ich habe mal gehört, dass Suizidenten oft ihre Brust entblößen, wenn sie sich in die Brust schießen«, sagte einer der Kommissare. »Ist das bei Messerstichen nicht auch so?« Tatsächlich steht es so in vielen Lehrbüchern der Rechtsmedizin und Kriminalistik, aber in der Praxis gibt es immer wieder Ausnahmen von dieser Regel. Und welcher Suizident hält sich in seinem verzweifelten und oft verwirrten Zustand schon an irgendwelche Lehrbuchregeln?
Gibt es wirklich keinerlei Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden, entfällt normalerweise die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen. Allenfalls werden noch offene Fragen geklärt. Wegen Wehnerts Angaben seinem Vater gegenüber gab es in diesem Fall allerdings noch Klä rungsbedarf. Auch wenn es so schien, als hätten die vermeintlichen Verfolger nur in seinem Kopf existiert, musste seinen Behauptungen doch nachgegangen werden.
Zunächst sollten die Ermittler den Vater und weitere Zeugen aus dem unmittelbaren privaten und beruflichen Umfeld von Holger Wehnert befragen. Sobald das Ergebnis unserer chemisch-toxikologischen Untersuchungen vorlag, würde man
Weitere Kostenlose Bücher