Der Totenleser
entscheiden, ob das Todesermittlungsverfahren eingestellt werden konnte.
Vier Tage nach der Obduktion rief mich einer der beiden Kommissare an, um über den Stand der Ermittlungen zu berichten. Holger Wehnert war tatsächlich Rechtshänder gewesen, woran ich nach der Obduktion aber auch keine Zweifel gehegt hatte.
Noch am Tag der Obduktion hatten die Beamten den Vater aufgesucht und ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbracht. Alfred Wehnert hatte zwar recht gefasst reagiert, an einen Suizid seines Sohnes wollte er jedoch nicht glauben. Abgesehen von den letzten Wochen vor seinem Verschwinden sei er immer »ein sehr fröhlicher Mensch« gewesen. Auf einen möglichen Drogenkonsum seines Sohnes angesprochen, erzählte der Vater freimütig, sein Sohn habe gelegentlich Cannabis konsumiert, sich aber nie auf Härteres eingelassen.
Und dann erzählte er den Beamten noch von einem ungewöhnlichen Telefonanruf: Einen Tag vor dem Ver schwinden seines Sohnes habe ihn jemand auf dem Handy angerufen – mit unterdrückter Nummer wie auch sein Sohn immer. Am anderen Ende der Leitung habe eine männliche Stimme »seltsam und unverständlich gebrabbelt, wie wenn einer den Mund voll hat oder kaut«. Obwohl sich die Stimme nicht wirklich erkennen ließ, hegte Alfred Wehnert schon zum damaligen Zeitpunkt keine Zweifel, dass dies ein Lebenszeichen von seinem Sohn war – das letzte, wie sich dann bald herausstellen sollte.
Dass Alfred Wehnert mit seiner Vermutung recht hatte, wurde klar, als er den Kriminalbeamten ein weiteres Detail verriet: »Im Hintergrund habe ich Geräusche gehört – so wie das Tuten von Schiffen.«
Die Befragung der Arbeitskollegen förderte weitere Puzzleteile zutage: Sechs Wochen vor seinem plötzlichen Verschwinden hatte Wehnert auf einer Technoparty als Bühnentechniker gearbeitet. Einer Kollegin erzählte er später, dass ihm bei dieser Veranstaltung ein Konzertbesucher ein Trinkhorn gereicht hatte. Aus dem habe er einen »seltsamen Met« getrunken, und seitdem gehe es ihm »total beschissen«. Eines Abends rief er plötzlich bei ihr zu Hause an und sagte: »Ich glaube, die sind hinter mir her.« Wen er mit »die« meinte, habe er ihr nicht sagen wollen, sondern stattdessen abrupt aufgelegt.
Obwohl ihr das merkwürdig vorgekommen war, dachte sie nicht weiter darüber nach und reiste am nächsten Tag für eine knapp siebenwöchige Konzerttournee ab.
Seitdem hatte sie Wehnert nicht mehr gesehen oder gesprochen.
Ein anderer Arbeitskollege hatte Wehnert eines Abends nach der Arbeit in seinem Auto mit nach Hause genommen. Unvermittelt fing Holger Wehnert während der Fahrt an, auf vorbeifahrende Autos zu zeigen und zu behaupten, dass darin Leute säßen, die ihn töten wollten. Zudem erklärte er, dass die scheinbar normalen Blink-und Bremslichter der vor ihnen fahrenden Wagen in Wirklichkeit an ihn gerichtete »Geheimsignale« seien. Dem Kollegen wurde Wehnerts Verhalten bald zu bunt, weshalb er ihn kurzerhand aus seinem Auto warf. Das bereute er allerdings zum Zeitpunkt seiner Befragung sichtlich, wie mir der Beamte am Telefon berichtete.
Auch die Freunde von Wehnert erzählten, dass er sich in den letzten Wochen vor seinem Tode zunehmend verändert hatte. Aus der vorher eher gepflegten Erscheinung sei innerhalb kürzester Zeit nur noch »ein Schatten seiner selbst« geworden. »Er schien völlig neben sich zu stehen«, formulierte es eine Freundin. An gemeinsamen Abenden habe er völlig gehetzt gewirkt, sei immer wieder aufgestanden und habe, versteckt hinter den Gardinen, aus den Fensterscheiben hinaus auf die Straße gesehen und unzusammenhängendes Zeug gemurmelt. Manchmal sei er plötzlich aufgesprungen und habe das Licht im Zimmer gelöscht, um es nach einigen Minuten wieder anzuschalten. Sein Verhalten war ihr unheimlich, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Holger Wehnert sich auf irgendetwas eingelassen hatte, gegen das er sich nicht wehren konnte und das ihn jetzt einholen würde. Und damit sollte sie recht behalten …
Die Erklärung, nach der wir suchten, kam am darauffolgenden Tag aus unserem toxikologischen Labor, allerdings nicht durch die chemisch-toxikologischen Analysen von Blut, Urin, Mageninhalt und Lebergewebe, denn dort war das Resultat überall negativ. Das bedeutete, dass Holger Wehnert zum Zeitpunkt seines Todes nicht unter dem Einfluss von Alkohol, Medikamenten oder Drogen gestanden hatte. Den entscheidenden Hinweis und letztlich auch die Lösung des Rätsels,
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