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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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daher leicht mit Wasser vollsaugt. An den Körperstellen, an denen die Hornhautschicht am dicksten ist, also an den Fußsohlen und den Innenseiten der Fingerspitzen, bildet sie sich zuerst. Nach frühestens einem Tag »Wasserliegezeit« ist die Hornschicht der gesamten Handinnenfläche und Fußsohlen in Waschhaut umgewandelt und kreideweiß verfärbt. Erst nach vielen Tagen im Wasser breitet sie sich auch auf die Streckseite der Hände und Füße aus. Üblicherweise erst nach Wochen, in sehr warmem Wasser allerdings schon nach ein paar Tagen (zum Beispiel, wenn der Tote in einer Badewanne liegt, in die über den laufenden Wasserhahn ständig warmes Wasser nachfließt), löst sich die gesamte Haut der Finger- und Zehenspitzen einschließlich der Nägel ab. Ein solcher Anblick bringt auch hartgesottene Todesermittler manchmal dazu, den Obduktionssaal für ein paar Minuten zu verlassen, um frische Luft zu schnappen.
    An den Handinnenflächen unseres Toten zeigte sich zusätzlich ein dünner, glitschig-grüner Algenfilm – »wie bei einem Korallenriff«, staunte einer der Mordermittler und wollte wissen, wie lange der Mann dafür im Wasser gelegen haben musste. Diese Frage war nur schwer zu beantworten. Denn weder Leichenfäulnis, Waschhautbildung noch die Besiedlung von Wasserleichen durch Algen oder andere marine Flora folgen nachvollzieh baren Gesetzmäßigkeiten. Mehrere Tage musste er allerdings im Wasser gelegen haben, sonst hätte man den Algenbewuchs nicht mit bloßem Auge erkennen können.
    Die graugrüne Brust- und Bauchhaut des Toten sah aus, als hätte ein Laie mit unruhiger Hand ein braunschwarzes Spinnennetz darauf tätowiert. Dieses Artefakt aber war keine Tätowierung, sondern durch die fort geschrittene Leichenfäulnis hervorgerufen. Hier zeichneten sich die unter der Haut gelegenen Blutgefäße ab, in denen sich, wie im gesamten Körper, der rote Blutfarbstoff während des Fäulnisprozesses dunkel verfärbt.
    Der größte Teil der Kopfhaare war nicht mehr vorhanden, was daran lag, dass sich beim Aufquellen die Struktur der Kopfhaut lockert und die Kopfhaare nach einiger Zeit ausfallen.
    An der Innenseite des linken Handgelenks fanden wir vier Schnittverletzungen, die bis zu fünf Zentimetern lang, aber nicht sehr tief waren. Das war eine überraschende Entdeckung, die für die Beurteilung der Todesumstände von zentraler Bedeutung sein konnte. Denn solche oberfläch lichen Verletzungen am Handgelenk sind oft Hinweis auf einen Suizid: Bevor sich jemand beispielsweise die Pulsadern aufschneidet, ritzt er sich zunächst nur vorsichtig die Haut. Einen Beweis, dass es sich hier um derartige »Probierschnitte« handelte, hatten wir aber nicht, die Mordtheorie war damit also noch keineswegs widerlegt.
    Auf der Suche nach weiteren rechtsmedizinischen Hinweisen wandte ich mich den Stichverletzungen in der Brust zu. Die vier Einstiche lagen jeweils nicht weiter als zwei Zentimeter voneinander entfernt und verliefen leicht schräg zur Körperlängsachse. Trotz der Leichenfäulnis war an den Rändern der Wunden noch gut zu erkennen, dass auch Haut und Unterhautfettgewebe »glatt«, also mit einem scharfen Werkzeug wie einem Messer, durchtrennt worden waren.
    Ich öffnete die Brust- und Bauchhöhle und suchte als Erstes nach Hinweisen auf die Tiefe der Stiche. Anders als in der Haut und im Gewebe darunter zeigten sich im Brustbein nur zwei Stichverletzungen. Die zwei oberen waren demnach nur oberflächlich. Die Wucht der unteren Bruststiche dagegen musste gewaltig gewesen sein, da das Brustbein hier jeweils durchbohrt war. Im Gegensatz zu den Schnitten am Handgelenk sahen diese Stichverletzungen wieder eher nach Fremdeinwirkung aus. Wer sticht sich selbst mit solcher Brutalität in die Brust?
    »Also doch Mord?«, fragte einer der Ermittler.
    Diese Frage ließ sich im weiteren Verlauf der Obduktion eindeutig beantworten:
    Abgesehen von den oben näher beschriebenen Stich-und Schnittverletzungen, gab es keinerlei Zeichen äußerer Gewalteinwirkung. Wäre Holger Wehnert erstochen worden, hätten wir Abwehrverletzungen finden müssen – Stiche oder zumindest Schnitte oder Kratzer an den Armen, die entstehen, während der Angegriffene sich zu schützen versucht.
    Ebenfalls für einen Suizid sprachen neben den Probierschnitten am linken Handgelenk die Anordnung der Bruststiche: parallel und für die eigene Hand gut erreichbar; auch der Verlauf der Stichkanäle passte zu der Armbewegung und zu der Achsstellung des

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