Der Totenleser
werden musste. Aber das war erst der Anfang einer der längsten rechtsmedizinischen Untersuchungen eines toten Kindes, die ich bis dahin durchgeführt hatte.
Während ich dann gemeinsam mit einer Kollegin und einem Sektionsassistenten die Obduktion begann, wurden der Verdächtigte Nikolas Wiedemann sowie seine Familie im Polizeipräsidium vernommen. Im Laufe der Obduktion, die insgesamt fast elf Stunden dauerte, gab die Beamtin der Mordbereitschaft die jeweils vorliegenden Resultate an ihre Kollegen im Präsidium weiter, die wiederum den Tatverdächtigen damit konfrontierten.
Zu Beginn des Verhörs behauptete Nikolas Wiedemann, der geistig behinderte Sören Weiland hätte Michelle Angerer getötet, wenig später ergänzte er unter Druck, selbst ebenfalls »beteiligt gewesen« zu sein. Um drei Uhr nachmittags, gut vier Stunden nach Beginn unserer Obduktion, wurde dem LKA-Chef während der laufenden Pressekonferenz ein Zettel zugesteckt, auf dem stand, der Täter sei geständig. Nikolas Wiedemann hatte soeben den Satz gesagt: »Ich bin es gewesen.«
Doch diese Meldung war etwas voreilig, denn die Geschichte, die der 17-Jährige nach einer kurzen Pause Hauptkommissar Lohwinkel und einem weiteren Ermittler erzählte, war völlig absurd: Der Geschlechtsverkehr sei Michelles Idee gewesen, sie habe plötzlich die Hosen runtergelassen, und da habe er eben mitgemacht. Danach habe er sie nur ohnmächtig machen wollen – in der Hoffnung, dass sie sich hinterher an nichts mehr erinnert. Auch habe er immer wieder nach ihr gesehen und nachts den Karton extra nach oben auf den Balkon geholt, damit sie in seiner Nähe war, falls sie aufwachen sollte. Irgendwann währenddessen müsse sie gestorben sein.
Abgesehen davon, dass es undenkbar ist, dass eine Siebenjährige jemanden zum Sex auffordert, wurde diese Version des Geschehenen durch die Obduktionsbefunde eindeutig widerlegt: Eine zweifache Drosselmarke am Hals und punktförmige Einblutungen in der Gesichtshaut und in den Augenbindehäuten ließen nur einen Schluss zu: Michelle Angerer war erdrosselt worden.
Damit konfrontiert, wechselte der Jugendliche in eine Version der Tat, die kaum glaubwürdiger war als die vorherige. Immerhin gab er jetzt indirekt eine Vergewaltigung zu, behauptete aber, das Mädchen hätte sich, während er sie am Schal festhielt, so stark gewehrt, dass sie sich aus Versehen selbst erdrosselt habe. Auch in den folgenden Stunden seiner Vernehmung bestritt Nikolas Wiedemann jeden Tötungsvorsatz. Da schließlich nur wenig Aussicht bestand, dass er doch noch irgendwann mit einem echten Geständnis herausrückte, mussten andere Mittel und Wege herangezogen werden, um ein genaues Bild des Tatgeschehens zu erhalten. Dabei baute die Mordkommission in erster Linie auf die rechtsmedizinische Rekonstruktion des Drosselvorgangs, der nach dem Ergebnis meiner Obduktion todesursächlich war. Damit, so die Hoffnung der Ermittler, würde sich die Behauptung des Beschuldigten zweifelsfrei überprüfen lassen. Außerdem wurde ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben.
Auf Grundlage einer Rekonstruktion des Tathergangs und des psychiatrischem Gutachtens sowie dessen, was die Ermittler inzwischen über die Vorgeschichte von Nikolas Wiedemann in Erfahrung gebracht hatten, ließ sich nun zu der tragischen Geschichte des ermordeten Mädchens und der Suche nach ihr auch die erschreckende Geschichte des Mörders und seiner Tat erzählen:
Acht Jahre vor dem Nachmittag, an dem Nikolas Wiedemann stundenlang vor seiner Haustür herumlungert und auf dem Stromverteilerkasten sitzt, haben seine Eltern sich nach vielen Jahren voller Alkoholprobleme und lautstarker Auseinandersetzungen endgültig getrennt. Während seine Mutter ihre voreheliche Tochter Kirsten und Nikolas´ zu jener Zeit vierjährige Schwester Laura zu sich nahm, kam der damals Neunjährige zusammen mit seinem drei Jahre älteren Halbbruder zu seinem Vater, der bald nach der Scheidung erneut heiratete. Eine Besuchsregelung kam nicht zustande, so dass die Brüder ihre Mutter kaum sahen. Es dauerte nicht lange, bis sie das erste Mal von zu Hause wegliefen, was in der Folgezeit öfter vorkam. Zeitweilig lebten Nikolas und sein Bruder sogar auf der Straße. Schon vorher, im Grunde seit dem ersten Schuljahr, hatte Nikolas Probleme in der Schule gehabt, was dazu führte, dass er mehrmals die Schule wechseln musste. Zwei vom Jugendamt angeregte Kuraufenthalte führten zu keiner Entspannung der Situation.
Knapp
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