Der Totenleser
bemerken müssen, wenn Michelle hier wäre. Aber die Polizisten ließen sich durch alles Zureden nicht daran hindern, die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen. Inzwischen suchten sie schon über zwanzig Minuten. Als sie sah, wie einer der Beamten auf den stockdunklen Balkon ging, schüttelte sie nur den Kopf. Durch die Tür beob achtete sie, wie der Polizist in dem ganzen Chaos einen großen Umzugskarton unter die Lupe nahm. Nachdem er den Deckel ein kleines Stück geöffnet hatte, schreckte er augenblicklich zurück. Als Nächstes hörte Nikolas’ Mutter, wie der Beamte von seinem Telefon aus einen Notarzt rief. Wenige Minuten später wurde sie zusammen mit den anderen aufs Polizeipräsidium gebracht.
Nadine Angerer saß in einem anderen Raum desselben Präsidiums, zu dem sie vor nicht allzu langer Zeit ein Streifenwagen gebracht hatte, um dort zusammen mit der Polizei auf das Ergebnis der Hausdurchsuchung zu warten. Es war ziemlich genau sechs Uhr morgens, als der LKA-Chef persönlich auf sie zutrat und sagte: »Das Schlimmste, was eintreffen konnte, ist eingetroffen: Wir haben Ihre Tochter gefunden, und sie ist tot.«
Als der zuständige Kriminalhauptkommissar Sven Lohwinkel vor dem Hochhaus ankam, wimmelte es dort schon von Reportern und Kameraleuten. Sein vierköpfiges Team und die Spurensicherung waren bereits in der Wohnung, in der man vor einer Dreiviertelstunde die Leiche der siebenjährigen Michelle Angerer gefunden hatte. Zwar gab es einen Leichenfundort, aber niemand wusste, wo das Mädchen umgebracht worden war. Deshalb ließ Lohwinkel das ganze Haus erst einmal als potentiellen Tatort absperren. Es musste verhindert werden, dass umherlaufende Personen mögliche Tatortspu ren zerstörten oder eigene Spuren hinterließen. Bevor sie aber das ganze Haus absuchten, musste er entscheiden, ob ein Rechtsmediziner angefordert werden sollte. Der Anblick all der Medienvertreter und Schau lustigen machte dem Kommissar die Entscheidung leicht. Man hätte zwar Sichtblenden aufbauen können, trotzdem kam es für ihn nicht in Frage, die tote Michelle dort oben auf dem Balkon zu entkleiden und ihren Körper nach Gewaltspuren abzusuchen, während von unten und von Nachbarbalkonen Kameras und Teleobjektive auf sie gerichtet waren. Das tote Kind musste in das Institut für Rechtsmedizin transportiert werden, und das möglichst sofort.
So kam es, dass dieses Mal kein Sarg, sondern ein hellbrauner, 86 x 40 x 30 Zentimeter großer Karton, von außen verschlossen mit weißem Klebeband und mehrfach umwickelt mit einem Elektrokabel, in unser Rechtsmedizinisches Institut gebracht wurde.
Es war eine schreckliche Vorstellung, dass sich in diesem Karton ein Kind befand, deshalb atmete ich zuerst tief durch, bevor ich den Karton vor den Augen einer Beamtin der Mordkommission und der zuständigen Oberstaatsanwältin vorsichtig mit einem Skalpell aufschnitt. Im nächsten Moment blickten wir alle mit stummem Entsetzen auf das tote Mädchen. Ein mit blutiger Flüssigkeit durchtränkter weißer Wollschal war zweimal um Kinn und Hals gewickelt, und zwar so, dass er auch Mund und Nase des auf dem Bauch liegenden Kindes verschloss. Im Nacken waren zudem die Haare des Mädchens mit dem Schal verknotet, auch das ein eindeutiger Hinweis, dass nicht ihre Mutter oder sie selbst ihn gebunden hatte. Unter dem Wollschal war das längere Ende eines einmal um den Hals geschlungenen Elektrokabels im Nacken verknotet und so um ihre Füße gebunden, dass die übereinandergeschlagenen Beine zu einer Schaukelstellung eng an den Körper gedrückt wurden, die Arme waren mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Wir hoben den Leichnam des Kindes aus dem Karton, legten ihn auf den Sektionstisch und öffneten die Handschellen.
Schon bei unseren ersten Untersuchungen machten wir eine schockierende Entdeckung: Das Mädchen war offensichtlich sexuell missbraucht worden. Die eindeutigen Verletzungen im Genitalbereich waren ein sicheres Zeichen dafür. Da Michelle mit Jacke, Pullover, T-Shirt, Hose, Unterwäsche sowie Schuhen und Strümpfen vollständig bekleidet war, konnten wir davon ausgehen, dass der Täter das Kind nach der Sexualtat wieder angezogen hatte und sich deshalb auch DNA- und Faserspuren von ihm auf ihrer Kleidung finden lassen würden.
Die nun folgende schichtweise Entkleidung des Kindes dauerte viele Stunden, da jeder Zentimeter Kleidung und später auch die gesamte Körperoberfläche einzeln mit Spezialfolie zur Spurensicherung abgeklebt
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