Der Totenleser
betreffenden Abend im Oktober deprimiert und wütend war. Und dass er fast den ganzen Nachmittag auf dem Stromverteilerkasten gesessen hatte, weil er sonst nichts zu tun wusste. Was letztlich in seinem Kopf vor sich ging, kann man sich vielleicht zusammenreimen, genau erfahren werden wir es nie.
Nadine Angerer sah aus dem Fenster ihrer Wohnung in einem Hamburger Stadtteil, während das Abendessen schon auf dem Herd stand. Ihre siebenjährige Tochter Michelle fuhr noch immer allein vor dem Haus Fahrrad. Nun war es schon Viertel nach sechs, also bald Zeit fürs Abendessen. Daher ging Nadine Angerer hinaus zu ihrer Tochter, um ihr zu sagen, dass sie noch eine Viertelstunde draußen bleiben durfte. Michelle wollte noch kurz zu einer Freundin fahren, versprach aber, rechtzeitig zu Hause zu sein.
Michelle war ungewöhnlich groß und kräftig für ihrAlter und hatte auch einen Selbstverteidigungskurs absolviert, deshalb durfte sie sich in der näheren Umgebung der mütterlichen Wohnung in einem großen Mietkomplex recht frei bewegen. Sie radelte los, aber sie fuhr doch lieber zu einer anderen Freundin, die viel näher wohnte und schon zwölf war. An dem Mietshaus angekommen, in dem Laura und Nikolas wohnten, stellte sie ihr Fahrrad unten vor der Haustür ab, ohne abzuschließen, fuhr in den fünften Stock und klingelte bei Familie Wiedemann. Laura war zwar zu Hause, hatte aber keine Zeit, weil es gleich Abendbrot gab. Also verabschiedete sich Michelle von ihr und ging wieder zum Fahrstuhl.
Keine halbe Stunde später hörte Laura Wiedemann, wie Nikolas, ihr großer Bruder, den aber alle nur Nick nannten, zur Tür hereinkam. Der wollte aber gleich »kurz noch mal raus«. Während er in die Küche ging, um einen Koffer mit irgendwelchem Werkzeug auf einen Stuhl zu stellen, erzählte er, dass er Michelle eben getroffen hatte. Und dass er ihr Haushaltstücher aus dem Keller holen musste, weil sie sich in die Hose gemacht hatte und sich die Bescherung abwischen wollte. Laura dachte nur, wie peinlich es ihr selbst wäre, wenn ihr mal so was passieren würde.
Um fünf nach halb sieben ging Nadine Angerer wieder hinaus, um Michelle hereinzuholen, aber ihre Tochter war nirgends zu finden. Das sah ihr gar nicht ähnlich, zumal sie sich heute gemeinsam die Entscheidungssendung von Big Brother anschauen wollten.
Nadine Angerer rief nach ihrer Tochter, aber niemand antwortete. Vielleicht war sie ja in dem Park, in dem die Mädchen öfter spielten. Also ging Nadine eine kleine Runde durch den Park und rief dort immer wieder nach ihrer Tochter. Es kam keine Antwort. Nun wurde Michelles Mutter unruhig. Sie eilte nach Hause, aber das Mädchen war nicht zurückgekommen. Deshalb nahm sie ihr Handy mit nach draußen, um bei ihren Freundinnen anzurufen, bevor sie erneut in den Park ging, diesmal zusammen mit ihrem Lebensgefährten.
Als sie um kurz nach sieben das nächste Mal zurückkamen, spürte Nadine Angerer auf einmal einen nie gekannten Schmerz und rief augenblicklich bei der Polizei an.
Der Beamte am Telefon spürte, dass er es nicht wie so oft mit falschem Alarm zu tun hatte. Deshalb versuchte er gar nicht erst, die besorgte Mutter zu beschwichtigen, sondern schickte sofort einen Streifenwagen los. Keine zehn Minuten später forderten die beiden Streifenbeamten Verstärkung an und organisierten die polizeiliche Suchaktion. Bald waren sechzig Polizisten im Einsatz auf der Suche nach Michelle, die meisten vom Kriminaldauerdienst (KDD), der Kripodienststelle, die außerhalb der normalen Dienstzeit für die Einleitung erster Maßnahmen zuständig ist. Parallel zur Suchaktion waren KDD-Beamte bereits mit der üblichen Routine beschäftigt: Anrufe bei sämtlichen Taxizentralen, der U-Bahn-Leitstelle und der Feuerwehr, über deren »Bettennachweis« alle Einlieferungen in Krankenhäuser nachvollziehbar sind. Doch nirgends ein Hinweis auf den Verbleib von Michelle.
Um halb acht klingelte bei Familie Wiedemann das Telefon. Nicks Mutter Simone stand vom Tisch auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Als sie zurückkam, berichtete sie den anderen, was los war: »Die kleine Michelle Angerer ist verschwunden, viele Nachbarn und sogar die Polizei suchen schon nach ihr.« Nikolas stand auf und ging zum Fenster. Bei einem Blick durch die Gardinen sah er tatsächlich einige Polizisten und mehrere Hausbewohner in kleineren Grüppchen, die emsig und aufgeregt wirkten. Simone Wiedemann hatte sich inzwischen eine Jacke angezogen, um sich auch an der
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