Der Totenleser
zwei Jahre nach der Trennung der Eltern sorgte sein Vater dafür, dass Nick regelmäßig von einer Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und deren Mann, einem Diplompsychologen, betreut wurde. Mit dreizehn zog Nikolas nach einem Streit mit seinem Vater zu seiner Mutter, die statt Konsequenz, Konstanz und Strenge lieber Nachgiebigkeit walten ließ. Als er nach einem Schulwechsel auf der neuen Schule kaum noch zum Unterricht erschien und ansonsten dauernd Streit mit seinen Mitschülern vom Zaun brach, riet das Therapeutenpaar den Eltern zu einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung, um zu verhindern, dass der Junge seine letzten emotionalen und sozialen Bindungen verlor und völlig verwahrloste.
Gut vier Jahre vor dem schrecklichen Verbrechen an der siebenjährigen Michelle Angerer wurde der damals 13-jährige Nikolas Wiedemann in einer Kinder- und Jugendgruppe auf einer Nordseeinsel untergebracht, wo er auch zur Inselschule ging. Dort gab er schon bald an, schikaniert und sogar sexuell missbraucht worden zu sein. Zeugen oder sonstige Hinweise, die seine Angaben bestätigten, gab es jedoch nicht. Nach weniger als einem Jahr kehrte er wieder in die väterliche Wohnung zurück.
Sein Vater wollte alte Fehler nicht wiederholen und traf mit einer fürsorglichen Lehrerin Absprachen, um Nikolas unter strenger Überwachung zu halten. Die Kontrolle funktionierte, doch als der Vater schwer erkrankte, nutzte der mittlerweile 14-Jährige die Gelegenheit, um mitten in der Nacht abzuhauen. Unterschlupf suchte er wieder bei seiner Mutter, die ihn bereitwillig aufnahm und offenbar keinerlei Ambitionen hatte, ihn zu erziehen. So schrieb sie ihm fortan auch alle möglichen Entschuldigungen für die Schule, als die Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes wieder zunahmen. Noch vor seinem Hauptschulabschluss, den er nur knapp schaffte, was nicht an mangelnder Intelligenz lag, trank er häufig Alkohol und wurde beim Marihuana-Rauchen erwischt. Eine anschließend angefangene Ausbildung als Elektriker – sein Vater übte denselben Beruf aus – brach er schon nach drei Wochen wieder ab.
Knapp zweieinhalb Monate vor seiner Tat lernte der inzwischen 17-Jährige ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft namens Melanie kennen. Mit ihr machte er kurz darauf seine ersten sexuellen Erfahrungen. Doch es dauerte nicht lange, bis Melanie das erste Mal damit drohte, mit ihm Schluss zu machen. Es nervte sie, dass er vorwiegend mit Jüngeren rumhing und sich für nichts richtig interessierte. Umgekehrt sah sich Nikolas immer häufiger nach anderen Mädchen um.
Am Vorabend des Mordes an Michelle Angerer schließlich eröffnet die junge Frau Nikolas nach einem heftigen Streit, dass sie endgültig mit ihm Schluss mache. Darauf hin stürmt Nikolas tief verletzt und wütend aus der Wohnung. Im Treppenhaus schlägt er mehrmals so heftig gegen die Wand, dass seine Hand anschwillt.
Als seine Mutter und deren Freund ihn vor dem Haus antreffen und ihm, was sonst nie vorkommt, Tränen in den Augen stehen, fragen sie ihn, was los ist. An schließend bemühen sie sich um eine Aussprache zwischen den Jugendlichen.
Die beiden reden daraufhin bis in die frühen Morgenstunden und trinken dabei Whiskey. Anschließend zieht sich Melanie in das Zimmer von Nicks Schwester Laura zurück. Sowohl sie als auch Nikolas stehen erst gegen Mittag auf. Kurz darauf schlägt seine Mutter ihm, Melanie und Laura vor, Inline-Skaten zu gehen. Nikolas, der sich ohnehin seit dem Aufstehen allen Anwesenden gegenüber feindselig verhält, hat keine Lust und bleibt zu Hause. Er geht vors Haus und redet draußen mit verschiedenen Bekannten, unter anderem mit dem geistig behinderten Sören Weiland. Eine gute halbe Stunde bevor Nadine Angerer ihrer Tochter erlaubt, noch eine Viertelstunde draußen zu bleiben und kurz zu einer Freundin zu fahren, setzt sich Nikolas zum wiederholten Mal auf den Stromverteilerkasten und gibt sich seinem Frust hin.
Irgendwann sieht er Michelle auf ihrem Fahrrad an ihm vorbeifahren. Er kennt sie, da sie schon öfter mit seiner Schwester gespielt hat und dabei auch immer wieder zu ihm gelaufen kam, um ihn zum Mitspielen zu überreden. Kurz darauf rutscht er von dem Stromverteilerkasten und geht langsam auf den Hauseingang zu.
Niemand weiß, wann genau der 17-Jährige beschlossen hat, seinen ganzen Frust an Michelle auszulassen. Auch lässt sich nicht sagen, ob er von Anfang an eine Vergewaltigung im Sinn hatte. Fest steht jedoch, dass er
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