Der Totenleser
schwieg.
»Aber das erklärt nicht, dass der Mörder eine Frau gewesen ist oder dass diese Frau seine Ehefrau war, auch nicht, dass der Mann ein verurteilter Straftäter war oder dass er aus dem Bataillon von Xiangyang desertiert ist, und erst recht nicht all die anderen Sachen, die du dir ausgedacht hast«, wies ihn der Lehrer zurecht.
Statt einer Antwort begab Ci sich wieder zu der Leiche, hob ihren Kopf an und deutete auf die Wunde an der Stirn, wobei er sich vergewisserte, dass alle sie sehen konnten.
»Die Folge eines Sturzes? Ein weiterer Irrtum. Grauer Fuchs hat den Leichnam da gereinigt, wo er es nicht hätte tun sollen, und hat es dafür an jenen Stellen unterlassen, an denen es nötig gewesen wäre. Sonst hätte er bemerkt, dass die Hautpartie, die er für zerquetscht hielt, in Wirklichkeit mit demselben Messer herausgetrennt wurde, das dem Toten die Kehle durchschnitten hat. Schaut euch die Form der Wunde an.« Mit behandschuhten Fingern zeichnete Ci sie nach. »Ihre Ränder, die vorher noch mit Erde beschmutzt waren, erweisen sich nach der Reinigung als geradlinig und scharf gezogen, sie bilden ein Rechteck, das einzig und allein einen Zweck erfüllte.«
»Ein dämonisches Ritual?«, warf Xu ein.
»Nein«, sagte Ci. »Das Herausschneiden der Haut geschah mit dem Ziel, etwas zu beseitigen, das bei seinem Verbleib die Identifizierung der Leiche ermöglicht hätte. Ein Zeichen, an dem man mit Sicherheit erkennen konnte, dass der Tote ein gefährlicher, zur schlimmsten aller Strafen verurteilter Verbrecher war. Etwas, das ihn unweigerlich mit seinem Mörder verband.« Er machte eine Pause und wandte sichan den Meister: »Es war keine unversehrte Haut, die ihm herausgeschnitten wurde. Auf dem entfernten Stück befand sich eine Tätowierung, wie sie die des Mordes überführten Verbrecher erhalten. Aus diesem Grund versuchte unsere Täterin, die Spur zu tilgen. Doch zum Glück vergaß sie, oder sie wusste vielleicht nicht, dass man den verurteilten Mördern ihr Vergehen nicht bloß zur Warnung auf die Stirn tätowiert, sondern ihnen auch noch ihren Namen auf den Scheitel schreibt, hier, unter den Haaren.«
Die Studenten staunten, jegliche Geringschätzung war aus ihren Blicken gewichen. Der Professor konnte nicht länger an sich halten.
»Und der Schluss, dass er aus Xiangyang desertiert ist?«
»Als mögliche Strafen für Tötungsdelikte sieht unser Rechtssystem bekanntlich die Hinrichtung, das Exil oder die Zwangsarbeit bei der Armee vor. Da wir wissen, dass der Kerl bis vor kurzem am Leben war, bleiben nur das Exil und die Zwangsarbeit.« Ci hob vorsichtig die rechte Hand der Leiche an. »Die kreisförmige Hornhautverdickung am unteren Ende des rechten Daumens bestätigt nachdrücklich die Annahme, dass der Mann bis vor kurzem den Ring aus Bronze trug, mit dem die Sehne eines Bogens gespannt wird.«
»Lass mich sehen«, sagte der Meister und schob Ci beiseite.
»Und wir wissen auch, dass unter dem Druck der einfallenden Jin unser ganzes Heer gegenwärtig in Xiangyang stationiert ist.«
»Und deshalb behauptest du, er sei desertiert.«
»Genau. Im Zustand der ständigen Bereitschaft darf niemand die Truppe verlassen. Dieser Mann aber hat es getan und ist nach Lin’an zurückgekehrt. Und vor nicht allzu langer Zeit, wie die Verfärbung auf seiner Stirn nahelegt.«
»Ich begreife nicht …«, wunderte sich Ming.
»Achtet auf diese schwache horizontale Linie.« Ci wies auf die Stirn. »Es gibt einen leichten Unterschied zu der Färbung seiner Haut, hier, über den Augenbrauen.«
Der Professor bestätigte es, verstand aber noch immer nicht, was Ci damit beweisen wollte.
»Das ist der typische Abdruck eines Kopftuchs. Auf den Reisfeldern nennt man die Bauern, die sie benutzen, ›die Zweifarbigen‹. Aber diese Spur hier ist viel schwächer, was darauf hindeutet, dass er das Tuch erst seit kurzer Zeit gebrauchte, um seine Tätowierung zu verbergen.«
Der Meister ging wieder an seinen Platz. Ci beobachtete ihn. Er schien seine nächste Frage reiflich abzuwägen.
»Und der Ort, an dem wir seine Frau finden können? Was heißt das, dass wir auf dem Markt nachfragen sollen?«
»Hier hatte ich Glück.« Seine Spontaneität verriet ihn, doch er fuhr fort: »In seinem Mund habe ich eine so große Menge einer weißlichen Nahrung entdeckt, dass ich folgerte, er müsse beim Essen ermordet worden sein.«
»Ja, aber …«
»Seht her.« Er nahm die Schale, in die er das Stäbchen mit dem Abstrich gelegt
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