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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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geblüht hatte, schlängelte sich jetzt ein kaum erkennbarer Pfad durchs Gestrüpp. Verwundert umrundete er einen mit Steinen gefüllten Teich und gelangte zu den hölzernen Stufen der Eingangsterrasse, die unter seinem Gewicht ächzten. Alles wirkte verlassen. Mit den schlimmsten Vorahnungen klopfte Ci an die Tür. Ihre einst leuchtend rote Bemalung war nur noch eine trockene, rissige Haut, deren dünne Schichten abfielen wie die Schale einer Zwiebel. Über seinem Kopf quietschte eine Laterne. Als er den Blick hob, sah er, dass von ihr kaum mehr übrig war als das im Wind schaukelnde Metallskelett. Keine Antwort. Er klopfte noch einmal, aber niemand öffnete. Als er durch die Fenster spähte, meinte er plötzlich, ein Gesicht, runzlig wie ein alter Apfel, vorbeihuschen zu sehen. Eine flüchtige Vision hinter dem zerfetzten Papier eines Fensters. Vielleicht eine Frau. Ci rief sie, aber die Gestalt verschwand wieder in den Tiefen des Hauses.
    Er drehte den Griff der Tür, sie gab nach und ließ einen penetranten Geruch nach Moder und Feuchtigkeit entströmen, der ihm den Atem abschnürte. Langsam ging er durch den großen Empfangsraum zu Fengs Privatgemächern. Erstaunt stellte er fest, dass das Haus vollkommen leer war. Die schönen alten Möbel waren verschwunden und hatten einem unheimlichen Geflecht aus Staub und Spinnweben Platz gemacht. Nur die Spuren einiger Bilder an den Wänden bezeugten,dass es in diesem Bauwerk jemals Leben gegeben hatte.
    Ein Geräusch in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Als er sich umdrehte, sah Ci einen gebückten Schatten in eines der benachbarten Zimmer laufen. Sein Herz klopfte. Er bewaffnete sich mit einer auf dem Boden liegenden Bambusleiste und folgte der Gestalt in ihr Versteck. Wegen der geschlossenen Fensterläden konnte er kaum erkennen, wohin er trat. Blind tastete er sich voran, bis er wenige Schritte von sich entfernt ein Scharren hörte. Er hielt inne und lauschte. Neben ihm schien jemand zu atmen. In diesem Augenblick setzte sich der Unbekannte in Bewegung. Ci sprang zur Seite, um ihn abzufangen, doch der Schatten trat ihm gegen das Bein und brachte ihn zu Fall. Als er sich aufrichten wollte, wurde er von zwei Händen angegriffen. Bei der Verteidigung merkte er, dass er es mit einem schwachen Gegner zu tun hatte, dessen Körper sich weich und schuppig anfühlte wie der eines Fisches.
    Obwohl die Gestalt ihn mit ihrem Geschrei in Panik versetzte, gelang es Ci, wieder aufzustehen und seinen Angreifer nach draußen zu zerren, wobei er registrierte, wie wenig er wog. Der Morgennebel erhellte das Häufchen zitternder Knochen in seiner Hand, und zu seiner Verwunderung sah Ci, dass es sich um ein armes Weiblein handelte, das genauso erschrocken war wie er selbst. Die Alte versuchte sich mit ihren dünnen Ärmchen zu schützen und wimmerte wie ein verlassener Welpe. Sie flehte ihn an, sie nicht zu schlagen. Sie habe ja nichts gestohlen, habe in dem alten Haus nur Unterschlupf gesucht.
    Als Ci sich beruhigt hatte, musterte er sie. In einen schmierigen Sack gekleidet, fielen besonders ihre Augen auf, die ungewöhnlich viel Weißes sehen ließen – ein einziges Abbildder Furcht. Er fragte sie, was sie im Haus des Richters Feng mache. Zunächst antwortete sie nicht, aber als er sie bei den Schultern nahm und schüttelte, versicherte ihm die Frau, dass seit Monaten niemand mehr in dem Haus wohne.
    Ci glaubte ihr. Das struppige Gewirr aus weißen Haaren verdeckte ein von Alter und Hunger entstelltes braunes Gesicht. Ihre Augen logen nicht. Auf einmal erhellte sich ihre Miene.
    »Bei allen guten Geistern! Ci? Bist du es, Junge?«
    Ci erstarrte, als diese glänzenden Augen plötzlich einen bekannten Zug für ihn bekamen. Stück um Stück glättete sich das verwelkte Gesicht, und der Schmutz in den Falten verschwand, bis die früheren Züge wieder hervortraten. Die Greisin, die ihn jetzt tränenüberströmt umarmte, war Mildes Herz, die ehemalige Dienerin von Richter Feng, die Frau, die sich jahrelang um den Würdenträger und seinen Haushalt gekümmert hatte.
    Ci betrachtete sie mitleidig und erinnerte sich, dass die Alte am Ende seiner Zeit bei Feng angefangen hatte, senil zu werden. Trotzdem hatte der Richter sie in seinen Diensten behalten. Oder wenigstens war es so gewesen, bis Cis Großvater starb und die Familie Lin’an verlassen musste.
    Viel mehr konnte Mildes Herz ihm auch nicht erzählen. Nur dass sie aufgehört habe, dem Richter zu dienen, als jene Frau aufgetaucht

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