Der Totenleser
hatte. »Es ist Käse.«
»Käse?«
»Überraschend, nicht wahr? Ein für unsere Gegend und unseren Geschmack ganz und gar ungewöhnliches Nahrungsmittel, das aber nichtsdestotrotz bei den Stämmen des Nordens sehr verbreitet ist. Soweit ich weiß, kann man es bei einem einzigen Stand auf dem Markt kaufen, beim alten Panyu, der seit Jahren exotische Esswaren anbietet. Bestimmt kennt er die Namen der Kunden auswendig, die eine derart gewöhnungsbedürftige Speise bei ihm bestellen.«
»Und der Tote hatte sich während seiner Dienstzeit offenbar daran gewöhnt.«
»Das vermute ich. Dort essen sie, was sie kriegen können.«
»Aber das beweist nicht, dass er von seiner Frau ermordet wurde.«
Ci konsultierte seine Aufzeichnungen, nickte und hob einen Arm des Toten an.
»Außerdem habe ich das hier gefunden.« Er zeigte dem Professor einige schwache Striche.
»Kratzer?«
Ci nickte. »Genau wie an seinen Schultern. An beiden. Sie kamen zum Vorschein, als ich den Essig eingesetzt habe.«
»Aha. Und das lässt dich vermuten …«
»Dass sie an jenem Tag von ihm brutal misshandelt wurde. Die Frau hielt es nicht mehr aus, und als ihr Mann zu Abend aß, nutzte sie die Gelegenheit und schnitt ihm die Kehle durch. Dann setzte sie sich in einem Anfall von Wut und Ohnmacht rittlings auf seinen Bauch und stach weiter auf ihn ein, obwohl er längst tot war. Als sie sich schließlich beruhigt hatte, nahm sie ihm alles ab, was ihn mit ihr in Verbindung bringen konnte: den Ring, die Wertsachen …«
»Und die Tätowierung auf seiner Stirn.«
»Und die Tätowierung auf seiner Stirn. Danach schleifte sie ihn aus dem Haus und ließ ihn dort liegen, wo man ihn gefunden hat. Wegen seiner Größe konnte sie ihn nicht weiter weg schleppen.«
»Wirklich phantastisch«, gab der Meister zu.
»Danke.« Ci verneigte sich.
»Nicht so voreilig, mein Junge. Das ist kein Lob.« Ming sah ihn streng an. »Ich sagte phantastisch wegen der maßlosen Phantasie, die jede deiner Behauptungen umgibt. Oder wie würdest du jemanden nennen, der, ohne rot zu werden, behauptet, die Mörderin dieses Mannes sei seine Frau gewesen und nicht seine Schwester? Und wenn du die Haut von derStirn nicht hast, wie kannst du dann verkünden, auf ihr habe sich eine Tätowierung befunden, die ihren Träger als Mörder ausweise?«
»Aber ich …«
»Ruhe«, unterbrach er ihn. »Du bist schlau. Oder besser gesagt: gewitzt. Aber nicht so sehr, wie du glaubst.«
»Und was ist nun mit der Wette?«, mischte sich Xu ein.
»Ach, ja. Die Wette …« Ming holte einen Beutel mit Münzen hervor und überreichte ihn dem Wahrsager. »Betrachtet die Schuld als beglichen.«
Der Meister senkte die Lider. Dann grüßte er und machte seinen Schülern ein Zeichen, das Mausoleum zu verlassen. Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als er Ci zu sich rief.
»Mein Herr.« Ci trat mit einer Verbeugung näher.
Ming forderte ihn auf, ihn nach draußen zu begleiten. Dort nahm er ihn beiseite. Ci befürchtete eine Rüge, und sein Puls beschleunigte sich. Deutlich spürte er ihn in seinen Schläfen pochen. Er wartete, dass der Gelehrte sprach.
»Sag mir eins, Junge. Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig«, antwortete er.
»Und wo hast du studiert?«
»Studiert? Ich weiß nicht, was Ihr meint …«
»Komm schon. Meine Augen sind schlecht, doch selbst ein Blinder kann erkennen, woher deine Fähigkeiten stammen.«
Ci presste die Lippen zusammen und öffnete sie auch nicht, als der Meister beharrte.
»Nun gut, wie du willst … Aber es ist wirklich schade, dass du dich so verweigerst, denn trotz deiner Dreistigkeit muss ich gestehen, wie sehr du mich beeindruckt hast.«
»Es ist schade?«
»Ja. Zufällig ist letzte Woche einer unserer Studenten erkrankt und musste in seine Heimatprovinz zurückkehren.Jetzt verfügt die Akademie über einen freien Platz, und obwohl wir eine lange Warteliste haben, suchen wir immer begabte Schüler. Ich habe gedacht, du würdest dich vielleicht dafür interessieren« Er machte eine Pause. »Aber ich sehe, dass ich mich getäuscht habe.«
Ci konnte nicht glauben, was er da hörte. Die Ming-Akademie war der Traum aller, die eine juristische Laufbahn anstrebten. Und auf einmal tat sich ihm diese Gelegenheit wie aus dem Nichts auf. Er musste sie bloß ergreifen.
Dann lächelte er bitter. So gern er sich selbst betrogen hätte, das Ganze war doch nur eine traurige Illusion. Auch wenn Ming ihm einen Platz anbot, verfügte er noch lange nicht über die
Weitere Kostenlose Bücher