Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
Vom Netzwerk:
hast die Leiche ja sogar gewaschen, bevor du nach Hinweisen gesucht hast.«
    Der Student wollte etwas erwidern, doch Ming hielt ihn zurück.
    »Aber, Meister, seht Ihr nicht, dass er uns bloß schröpfen will?«
    »Ganz ruhig, Grauer Fuchs. Die Worte dieses jungen Mannes zeugen von solchem Selbstvertrauen, dass an ihnen möglicherweise etwas Wahres ist. Trotzdem, wie ich euch schon oft gesagt habe, obwohl uns die Gewissheit bei der Arbeit helfen kann, so ist sie doch auch manchmal eine Waffe des Fanatismus und der Intoleranz. Für sich allein genommen, reicht der feste Glaube nicht aus, jemanden zu verurteilen, und aus ebendiesem Grund würde kein Gericht ihn als Beweis akzeptieren. Lasst also eure Münzen am Gürtel, denn noch sind sie nicht verloren.« Er drehte sich wieder zu Ci um. »Und dort werden sie bleiben, solange dieser Frechlingseine Behauptungen nicht begründet. Sonst müssten wir annehmen, dass sie allein seiner Phantasie entspringen. Oder schlimmer noch: seiner Anwesenheit am Tatort.«
    Ci atmete schwer. Diesmal stand er nicht vor einer leichtgläubigen Gesellschaft aus trauernden Familienangehörigen, sondern vor der Elite der Ming-Akademie, dem Institut, an dem die besten Untersuchungsrichter des Landes ausgebildet wurden, und vor ihrem höchsten Repräsentanten, Meister Ming persönlich. Wenn er sich weigerte, Erklärungen zu geben, würden sie ihn für einen Schwindler halten. Wenn er sie ihnen aber lieferte, würden sie sofort wissen, dass er medizinische Kenntnisse besaß. Und das konnte gefährlich sein.
    Er versuchte auszuweichen, indem er sagte, wenn sie Beweise brauchten, müssten sie nur den Tatort aufsuchen und die Richtigkeit seiner Behauptungen überprüfen. Doch statt den Professor zu überzeugen, erreichte er damit bloß, dass der ihm drohte, er werde die Behörden informieren und ihn anzeigen.
    Ci ballte die Fäuste. Er wusste, was für einer Gefahr er sich aussetzte, aber es war der Moment gekommen, diese eingebildeten Reichen zum Schweigen zu bringen.
    »Gut. Beginnen wir mit der Todesursache«,sagte er schließlich. »Der Mann starb nicht im Kampf. Weder gab es mehrere Angreifer noch verschiedene Treffer. Er starb auf Grund einer einzigen Verletzung, der am Hals, welche die Kehle und die wichtigsten Adern auf der rechten Seite vollständig durchtrennte. Anfang und Verlauf des Schnittes zeigen, dass er von hinten sowie von unten nach oben ausgeführt wurde. Er hätte ihm auch im Stehen zugefügt werden können, aber man darf nicht vergessen, dass wir von einem wahren Hünen reden, einem Mann, der jeden anderen um zwei Köpfe überragt, was uns theoretisch zu einem Angreifer mit einerdeutlich größeren Statur führen müsste, den es aber nicht gibt. Klar ist zumindest, dass unser Mann sich in sitzender, geduckter oder liegender Position befunden hat.Was die übrigen Einstiche betrifft, jene im Brustbereich, so geht aus der Untersuchung der Wunden hervor, dass sie alle mit derselben Waffe, aus demselben Winkel und mit derselben Kraft zugefügt wurden, das heißt, sie stammen alle von derselben Person. Kurioserweise sind drei davon tödlich, nämlich der ins Herz, der in die Leber und der in den linken Lungenflügel, was den Rest der Stiche unnötig machen würde, auch den Schnitt durch die Kehle.« Er trat zu der Leiche und deckte sie auf, um die Einstiche zu zeigen. »Es gibt also keine Belege für die schöne Geschichte über eine ganze Bande von Angreifern.«
    »Nichts als Mutmaßungen«, bemerkte Grauer Fuchs verächtlich.
    »So? Meinst du?«
    Ohne ein weiteres Wort ergriff Ci seinen Spatel wie einen Dolch und stürzte sich auf Grauer Fuchs. Der Student wich schlagartig zurück und verteidigte sich erfolgreich mit den Armen gegen die Stöße. Genauso unvermittelt, wie er damit begonnen hatte, brach Ci den Angriff ab.
    Mit offenem Mund stand Grauer Fuchs in einer Ecke des Raumes, in die Ci ihn getrieben hatte. Zu seiner Verwunderung war ihm niemand zu Hilfe geeilt. Nicht einmal Meister Ming, der die Szene ungerührt beobachtet hatte.
    »Meister!«, protestierte er.
    Doch Ming erteilte nur Ci das Wort.
    »Wie du siehst«, wandte Ci sich an Grauer Fuchs, »konnte ich deine Verteidigung nicht überwinden. Stellen wir uns jetzt die Situation vor: Wenn ich statt des Spatels ein Messer benutzt hätte, müssten deine Arme Verletzungen aufweisen.Und selbst wenn ich dich an der Brust getroffen hätte, wären Winkel und Tiefe der Wunden unterschiedlich ausgefallen.«
    Grauer Fuchs

Weitere Kostenlose Bücher