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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Reste von Erde, die sie immer noch verunreinigten. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die viereckige Vertiefung nicht auf einen Schlag zurückging, sondern auf einen brutalen Schnitt mit einem scharfen Gegenstand – der Schmutz an den Wundrändern hatte das bisher verborgen.
    Er legte die Instrumente beiseite und erneuerte den Pinsel am Tintenstein. Sein Herz klopfte schneller, denn er hatte etwas entdeckt. Abermals wandte er sich den Händen und Armen zu, wo sich weitere Kratzer zeigten. Dann untersuchte er noch einmal den Scheitel, indem er vorsichtig die Haare teilte. Kaum fand er seine Vermutungen bestätigt, bedeckte er den Leichnam wieder mit dem Tuch. Als er sich schließlich zu dem Meister umdrehte, wusste er, dass er gewonnen hatte.
    »Nun, Zauberer, hast du noch etwas anzumerken?«, fragte Grauer Fuchs mit siegesbewusstem Lächeln.
    »Nicht allzu viel.« Er senkte den Kopf, um seine Aufzeichnungen durchzugehen.
    Die Studenten fingen an zu lachen und forderten lautstark, Xu solle ihnen den Gewinn auszahlen. Nervös bat der Wahrsager sie, Cis Bericht abzuwarten, doch der blieb weiterhin in sich gekehrt und starrte auf seine Notizen.
    Als Xu fluchend mit der Auszahlung beginnen wollte, hielt Ci ihn zurück. Dann verkündete er, dass die Studenten diejenigen wären, die zu zahlen hätten, und zwar alles, bis auf den letzten Qian. Auf den Gesichtern wich das spöttische Grinsen einem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens.
    »Wovon redest du?«, platzte Grauer Fuchs heraus. »Wenn du dich über uns lustig machen willst …«
    Ci blickte ihn nicht einmal an. Er wandte sich in die Richtung, wo der Professor stand, und wartete, dass dieser ihm gestattete, fortzufahren. Schweigend betrachtete der Gelehrte ihn, als ahnte er, dass er jemanden vor sich hatte, der mit Sicherheit kein Scharlatan war.
    »Nur zu«, ermunterte er ihn.
    Ci folgte der Aufforderung. Er hatte seinen Vortrag gut vorbereitet.
    »Zunächst muss ich euch darauf hinweisen, dass alles, was ihr hier hören werdet, dem Willen der Götter entspricht. Demselben Willen, der mich dazu zwingt, euch über die Regeln aufzuklären, zu deren Einhaltung ihr euch von diesem Zeitpunkt an verpflichtet. Ich verlange, dass ihr das Geheimnis der Dinge, die ich euch anvertrauen werde, bewahrt. Ebenso wie das ihres Autors, eures ergebenen Dieners.« Er verneigte sich.
    »Sprich weiter. Dein Geheimnis soll gewahrt bleiben«, sagte der Meister ohne große Überzeugung.
    »Euer Schüler Grauer Fuchs hat eine stümperhafte und oberflächliche Untersuchung vorgenommen. Von Eitelkeit verblendet, hat er sich bei banalen Dingen aufgehalten und jene Kleinigkeiten übersehen, in denen die Wahrheit steckt. So wie man tausend Li stets Schritt für Schritt gehen muss, erfordert die Untersuchung einer Leiche die Ruhe der Bescheidenheit und die Gründlichkeit der Demut.«
    »Eine Demut, die dir zu fehlen scheint«, bemerkte Professor Ming.
    Ci machte eine entschuldigende Verbeugung und fuhr fort.
    »Der Ermordete hieß Fue Lung. Schwerer Verbrechen überführt, wurde er verurteilt, im Strafbataillon von Xiangyang am Grenzfluss Han als Soldat zu dienen, in einer Einheit, aus der er kürzlich desertierte. Er kam nach Lin’an, um ein neues Leben anzufangen, doch sein gewalttätiger Charakter verhinderte das.Wie schon viele Male begann er einen Streit mit seiner Frau, bei dem er sie brutal und rücksichtslos attackierte. Die Frau ertrug es nicht länger. Sie nutzte die Gelegenheit, als ihr Mann nichtsahnend zu Abend aß, um ihn von hinten zu überfallen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Was diese Unglückselige betrifft, werdet ihr sie in ihrem Haus finden, nicht weit von der Mauer, an der dieLeiche entdeckt wurde. Ihr braucht nur im Laden der Jurchen am Nordkai zu fragen. Dort wird man euch sagen, wo sie wohnt. Falls sie sich nicht schon umgebracht hat.«
    Keiner sagte etwas, und selbst Xu bekam kein Wort heraus, als Ci ihn durch Zeichen aufforderte, seine Schulden einzutreiben. Schließlich trat Grauer Fuchs einen Schritt vor und ohrfeigte Ci.
    »Aber …« Ci verstummte entsetzt.
    »Bisher glaubte ich, das Geschwafel aller Arten von Scharlatanen, Hungerleidern und Gaunern zu kennen«, fuhr ihn der Grauhaarige an, »doch deine Frechheit übertrifft alles Vorstellbare. Verschwinde, bevor wir ernstlich böse werden!«
    Als einzige Antwort gab Ci ihm die Ohrfeige zurück.
    »Jetzt hör du mir mal zu. Ich kann weder etwas für deine Unfähigkeit noch für deine Nachlässigkeit. Du

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