Der Totenleser
willigte Xu ein. Gleichwohl befahl er Ci, Särge zuzunageln, als würde er ihm schon gehören. In der Zwischenzeit trällerte er ein Liedchen vor sich hin und feierte den größten Glücksgriff, den er seit Jahren getan hatte.
* * *
Am frühen Abend traten sie den Rückweg an. Seit einer Weile schon hatte es aufgehört zu regnen, und Xu ging beschwingt voran und summte dabei immer wieder die gleiche Melodie. Mit hängendem Kopf und schwerem Schritt folgte Ci ihm langsam und dachte daran, dass alles, wovon er in seinem Leben geträumt hatte, nun entschwand, genau wie die Sonne, die hinter dem Horizont verlosch. Er versuchte, dieseGedanken zu vertreiben und sich auf das strahlende Gesicht seiner Schwester zu konzentrieren. Im Vertrauen darauf, dass es ihm am Ende doch gelingen werde, sie zu heilen, richtete Ci sich innerlich wieder auf. Er würde ihr die besten Medikamente kaufen, und sie würde heranwachsen und zu einem hübschen jungen Mädchen werden. Das und kein anderer war jetzt sein Traum.
Doch je näher sie dem Kai kamen, umso mehr verdunkelte sich sein Gemüt.
Als er die Barkasse erblickte, wusste Ci, dass etwas Furchtbares geschehen war. Xus Ehefrauen standen vor der Kajüte, schrien und winkten verzweifelt mit den Armen, um sie zur Eile zu bewegen. Xu beschleunigte seine Schritte, und Ci rannte los. Mit einem Satz sprang er an Deck und betrat die Kabine, in der Mei Mei normalerweise lag, wenn es ihr schlechtging. Er rief nach ihr, aber niemand antwortete. Die Tränen der Frauen bestätigten ihm seinen Verdacht.
Er drehte sich einmal um sich selbst, bis er sie erblickte.
Ganz hinten in der Ecke, neben einem Eimer Fische, ruhte unter einem alten Tuch der leblose Körper seiner Schwester. Still und bleich, lag sie für immer in tiefem Schlaf.
VIERTER TEIL
20
Während des Begräbnisses spürte Ci, dass ein Teil von ihm in dem kleinen Sarg mit seiner Schwester in die Erde versenkt wurde. Der andere Teil bestand nur mehr aus losen Fetzen, die, selbst wenn man sie zusammennähte, nie wieder so aussehen würden wie das ursprüngliche Gewebe. Zum ersten Mal empfand er mehr Mitleid für seine Seele als für seinen Körper, ihm war, als fräßen die Verbrennungen, die ihn seit Kindertagen entstellten, sich in sein Inneres, und er fände kein Mittel, sie aufzuhalten.
Er weinte, bis seine Tränen versiegt waren und ihn leer wie einen hohlen Panzer zurückließen. Alles, was er spürte, waren Bitterkeit und Verzweiflung. Erst waren seine beiden Schwestern gestorben, dann sein Bruder und seine Eltern. Und nun die Kleine.
Außer Xu hatte ihn niemand begleitet. Der Wahrsager wartete schweigend neben dem gemieteten Karren, auf dem sie den Sarg befördert hatten, und kaute Wurzeln. Ci war noch dabei, die Blumen zu ordnen, mit denen er den elenden Anblick des Grabes verschönern wollte, als der Alte herantrat und ihm den Vertrag zu seinem Verkauf als Sklave unter die Nase hielt. Ci fuhr herum, nahm das Papier und zerriss es in tausend Stücke. Doch Xu schien das nicht zu beeindrucken. Er bückte sich, um die Fetzen in aller Ruhe aufzulesen, und fügte sie sorgfältig wieder zusammen, als könnte er den Text auf diese Weise retten.
»Du willst nicht unterschreiben?«, fragte er. »Glaubst du im Ernst, Ci, ich ließe den größten Trumpf meines Geschäftslebens entwischen?«
Wortlos sah Ci durch ihn hindurch. Gerade wollte er gehen, da hielt Xu ihn zurück.
»Wohin kannst du denn? Ohne mich bist du nichts! Nur ein Hungerleider, der sich wer weiß was auf seine Klugheit einbildet.«
»Wohin?« Ci explodierte. »Fort von dir und deiner ekelerregenden Geldgier! Zur Akademie des Meister Ming.«
Ci konnte nicht mehr klar denken. Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, bereute er ihn auch schon.
»Meinst du wirklich? Da täuschst du dich aber!« Der Wahrsager lachte böse. »Wenn du abhaust, gebe ich diesem Ermittler Bescheid, der dich gesucht hat. Dann pisse ich aufs Grab deiner Schwester und gehe mit der Belohnung in den Puff.«
Ein blitzartiger Faustschlag unterbrach Xus Redeschwall. Der zweite Hieb traf seine Zähne. Ci schüttelte seine Hand und beherrschte sich, damit er ihm nicht den Schädel einschlug. Xu spuckte Blut, das schmutzige Grinsen wich indes nicht aus seinem Gesicht.
»Du bleibst bei mir, oder du bist verloren.«
»Jetzt hör mir mal gut zu!«, gab Ci zurück. »Zieh das verdammte Kostüm an und mach deinen Reibach. Bestimmt wirst du genug Trottel finden und mehr damit rausholen als mit der
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