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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Belohnung. Wenn ich aber eines Tages erfahren sollte, dass du mit Kao geredet hast, werde ich deine Lügen aufdecken, und dein Geschäft ist erledigt.« Er hielt einen Moment inne. »Und sollte ich außerdem erfahren, dass du auch nur ein Sandkorn von diesem Grab angerührt hast, schlitze ich dich auf und esse dein Herz.«
    Dann legte er eine letzte Blume auf Mei Meis Grab und machte sich auf in die Stadt.
    * * *
    Ci betrachtete die vom Wind gepeitschten kahlen Weiden und dachte, dass sich wohl selbst die dünnsten Zweige weniger verlassen fühlten als er. Der Winterregen drang ihm durch die Kleidung und trommelte auf seine Haut, während er ziellos umherirrte, allein mit seiner Trauer. Zufällig führten ihn seine Schritte in eine Menschenmenge, die er gar nicht wahrnahm, unter unzählige Seelen, von denen sich keine einzige für ihn interessierte.
    Den ganzen Vormittag wanderte er an denselben Kanälen entlang, durch dieselben Gassen, wiederholte Wege, ohne es zu bemerken, die Augen zu Boden gerichtet. Er stapfte durch den Schmutz, der allmählich seine Beine hinaufkletterte. Gegen Mittag hielt er an, um Luft zu holen. Er hob den Blick und fand sich in einem Schmerz gefangen, der stärker war als alle Einsamkeit. Während er sich mit dem Rücken an einer alten Holzsäule in die Hocke gleiten ließ, fragte er sich, ob es Sinn hatte, an der Akademie zu studieren. Würde das Wissen, das er sich aneignete, ihm Mei Meis Fröhlichkeit zurückgeben oder die zärtliche Liebe seiner Mutter, oder wenigstens die Rechtschaffenheit, die sein Vater ihm genommen hatte?
    Schemenhafte Bilder seiner Schwester tauchten vor ihm auf,Visionen ihres Lächelns, die sich im Regen auflösten, ihre lebhaften, fieberglänzenden Augen … Dann verschwanden sie wieder, und zurück blieb bleischwere Mutlosigkeit.
    Ci dachte an seine Familie, seine Mutter, seinen Vater, seine Geschwister. Erinnerte sich an die Zeit, als sie alle zusammen glücklich gewesen waren, die Zeit, als sie Träume und Hoffnungen geteilt hatten. Eine Zeit, die nie mehr wiederkehren würde.
    Er blieb sitzen, und das Wasser lief ihm übers Gesicht, trübte seinen Blick, so wie die Einsamkeit seine Seele.
    Doch plötzlich hockte sich ein bettelnder Junge neben ihn, er hatte keine Arme.Nur zwei Stümpfe, an die man ihm Stoffbeutel gebunden hatte, damit er Korn tragen konnte. Trotz seiner Behinderung lächelte er, wobei er vor Freude die Augen zukniff und seine zahnlosen Kiefer entblößte. Er sagte Ci, dass er Regen gern habe, weil er ihm das Gesicht wasche. Ci band ihm die Beutel wieder fest und wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab.In diesem Moment dachte er an Mei Meis Gesicht, das trotz ihrer Krankheit immer heiter gewesen war.Er stellte sich vor,dass ihr Geist in seiner Nähe war und ihn ermutigte, aufzustehen und seine Träume zu verfolgen. Er spürte ihre Anwesenheit. Fast konnte er sie berühren.
    Er streichelte den Kopf des Jungen und erhob sich. Allmählich ließ der Regen nach. Wenn er sich beeilte, wäre er noch vor Sonnenuntergang in der Ming-Akademie.
    Von einer unbändigen Sehnsucht angetrieben, erreichte Ci sein Ziel schneller als erwartet. Hinter den hellen Fenstern des alten Palastes, in dem sich die Akademie befand, erkannte er die Silhouetten lebhaft diskutierender Studenten. Ihr Lachen drang durch den Hain aus Pflaumen-, Birnen- und Aprikosenbäumen vor der mächtigen Steinmauer, die das Gebäude umschloss. Er malte sich aus, einer von ihnen zu sein, und seine Seele sprühte Funken. Da tauchte eine Gruppe Studenten aus einer Gasse auf und steuerte auf die Akademie zu. Sie redeten über ihre neu erworbenen Bücher und wetteten, wer wohl als Erster die Prüfungen bestehen werde, die den Weg zum Richteramt ebneten. In ihrem Gefolge zogen zwei Diener einen mit Früchten, Süßigkeiten und anderen Speisen beladenen Handwagen.
    Als die Gruppe das Tor durchschritt, krampfte sich Cis Herz zusammen. Für einen Moment fragte er sich, ob erwirklich an einen Ort gehörte, der normalerweise begüterten jungen Männern, Abkömmlingen von Edelleuten, vorbehalten war. Er beobachtete, dass einer der Studenten sich nach ihm umsah, als fürchtete er, allein durch Cis Nähe beschmutzt zu werden. Da er sich ertappt fühlte, blickte der Adelsspross in eine andere Richtung und tuschelte seinen Kommilitonen etwas zu, worauf diese sich umdrehten und Ci abschätzig musterten. Dann gingen sie durch das zweiflügelige Eingangsportal, das zum Palast führte. Ci sah ihnen

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