Der Totenleser
sei.
»Welche Frau?«
»Die böse Frau. Sie war schön, ja. Aber sie sah einem nie in die Augen.« Die Greisin fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, wie um die Person, von der sie sprach, heraufzubeschwören. Sie blickte ins Leere, wo das Beschriebene wie etwas Gegenwärtiges vor ihr zu stehen schien. »Neuer Diener hat sie mitgebracht … Und das Unglück.«
»Aber wo sind sie jetzt?«
»Ich bin allein. Verstecke mich … Manchmal kommen sie in der Dunkelheit und reden zu mir.« Ihre Augen weiteten sich wieder vor Angst. »Wer bist du? Warum hältst du mich fest?« Sie machte sich von Ci los und wich zurück.
Ci betrachtete sie. Sie war wieder zu einem gebeugten, dem Wahnsinn verfallenen Bündel geworden. Er wollte ihr helfen, doch Mildes Herz drehte sich um und lief weg wie von Dämonen gejagt, bis sie im Unterholz verschwunden war.
Auf der Suche nach irgendeiner Spur, die Licht in die Angelegenheit bringen könnte, kehrte er in die Wohnung zurück, doch er fand nichts als den von der Dienerin angehäuften Müll. Das Haus stand bestimmt schon längere Zeit leer. Ci wunderte sich, dass Feng ihm bei ihrer letzten Begegnung nichts davon gesagt hatte.
Als er die Villa verließ, war die Sonne nur noch ein blasser Fleck hinter einer dichten Wolkendecke. Ohne Vorankündigung setzte der Regen ein. Auf dem Weg zum Boot zwang ihn eine Wasserhose, im Sklavenmarkt Zuflucht zu suchen. Während er dort unter einem Zeltdach, das den Regen notdürftig abhielt, bis auf die Knochen auskühlte, überfiel Ci die Verzweiflung. Seine letzte Hoffnung hatte sich in Luft aufgelöst. Vielleicht befand der Richter sich noch auf seiner Reise durch den Norden, oder der Kaiser hatte ihn in eine andere Stadt geschickt. Für Ci war das bedeutungslos. Er hatte weder Zeit noch Geld, noch Arbeit. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er konnte die Medikamente nicht kaufen, und Mei Mei konnte nicht warten. Er sah sich um und entdeckte eine Gruppe von Sklaven aus dem Norden, aneinandergebunden wie Vieh. Er vermutete, dass es sich um bei den Kämpfen gefangengenommene Jin handelte. Ihr Anblickwar beklagenswert, aber wenigstens bekamen sie Essen und ein Lager. In gewisser Weise beneidete er sie.
Ci fasste einen Entschluss. Vielleicht war es die schrecklichste Entscheidung seines Lebens, doch er wollte nichts unversucht lassen. Er trat hinaus in den Regen und lief zu den Feldern des Todes.
Während er den Hügel zum Mausoleum hinaufstieg, wurde ihm eng ums Herz.
Er fand Xu mit der Arbeit an einem Sarg beschäftigt. Der Wahrsager blickte ihn schief an, als hätte er ihn erwartet. Dann setzte er den Hammer ab und richtete sich auf.
»Du siehst aus wie ein nasses Küken. Zieh dich um und hilf mir.«
»Ich brauche Geld«, stieß er hervor.
»Ich auch. Darüber haben wir ja schon gesprochen.«
»Ich brauche es jetzt. Mei Mei stirbt sonst.«
»Alle müssen irgendwann sterben. Hast du nicht gesehen, wo wir hier sind?«
Ci packte den Alten am Kragen. Fast hätte er zugeschlagen, doch er bremste sich, ließ ihn wieder los und rückte ihm die Kleidung zurecht. Anschließend senkte er die Stirn, als wollte er seine eigenen Worte nicht hören.
»Wie viel würdest du für mich bezahlen?«
Xu fiel der Hammer aus der Hand. Er konnte nicht glauben, was Ci ihm soeben vorgeschlagen hatte. Als der ihm jedoch bestätigte, dass er sich als Sklaven verkaufen wolle, schnaufte Xu.
»Zehntausend Qian. Das ist alles, was ich dir anbieten kann.«
Ci atmete tief ein. Wenn er feilschte, wusste er, könnte er eine viel höhere Summe bekommen, doch er hatte keine Kraft mehr dazu, nachdem er Nacht für Nacht das erstickteJammern seiner Schwester gehört und vergeblich nach einer Lösung gesucht hatte. Inzwischen war ihm alles egal. Ihm fehlten die Luft und das Leben. Er war vollkommen ausgelaugt. Deshalb nahm er an.
Xu ließ den Sarg Sarg sein und beeilte sich, ein Dokument aufzusetzen, das den Verkauf beglaubigen sollte. Er befeuchtete seinen Pinsel mit Speichel und schmierte gierig den Vertrag aufs Papier. Dann stand er auf, rief den Gärtner zum Zeugen und reichte Ci das Blatt, damit er es für gültig erklärte.
»Ich habe die wesentlichen Punkte notiert. Dass du mir deine Dienste zur Verfügung stellst und mir bis zu deinem Tode gehörst. Hier. Unterschreibe.«
»Zuerst das Geld«, verlangte Ci.
»Ich gebe es dir auf dem Boot. Du kannst ruhig unterschreiben.«
»Dann unterschreibe ich dort, wenn ich das Geld in der Hand halte.«
Zähneknirschend
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