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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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nach. Drinnen herrschten Weisheit und Sauberkeit, Dummheit und Dreck mussten draußen bleiben.
    Er nahm all seinen Mut zusammen und folgte ihnen.
    Kaum hatte er den Garten betreten, schnitt ihm ein Männlein den Weg ab und wedelte mit einer Rute vor ihm herum, als wollte es eine Fliege verscheuchen. Als Ci ihm seine Absicht mitteilte, Meister Ming aufzusuchen, betrachtete der Bedienstete ihn von oben bis unten und antwortete, das sei unmöglich. Und obwohl Ci ihm versicherte, dass Ming selbst ihn eingeladen habe, glaubte ihm der Wächter nicht.
    »Der Meister lädt keine Bettler ein.« Gewaltsam schob er ihn wieder zur Tür.
    Ci zögerte nur kurz. Es war seine Gelegenheit, und er durfte sie nicht verpassen. Also riss er sich von dem Männlein los und rannte auf das Gebäude zu. In seinem Rücken ertönten empörte Rufe. Eine Meute von Studenten schloss sich der Verfolgungsjagd des Wächters an. Ci trat über die Eingangsschwelle, lief den Korridor entlang, bis zu einem Raum, in dem mehrere junge Männer meditierten. Ohne ihnen Zeit für eine Reaktion zu lassen, durchquerte er den Saal und suchte Zuflucht in der Bibliothek. Dort stieß er mit einer Gruppe von Studenten zusammen, Bücher fielen zu Boden, Empörung machte sich breit. Da bemerkte Ci eineTreppe, die nach oben führte, und stürzte hinauf. Als er die letzten Stufen genommen hatte, musste er feststellen, dass die vermeintlich rettende Treppe vor einer verschlossenen Tür endete. Er warf sich dagegen, aber sie gab nicht nach. Als er umkehren wollte, versperrte ihm eine wütende Menge mit Stöcken und Ruten den Weg. Ci presste sich mit dem Rücken gegen die Tür, und in Erwartung des ersten Treffers hob er die Arme schützend vors Gesicht. Doch plötzlich öffnete sich die Tür nach innen.
    Ci stolperte rückwärts, die Verfolger erstarrten.
    Erst als er den Kopf wendete, begriff Ci, was geschehen war. Unter einer Flügelkappe blickte ihn die stumme Gestalt des Professors zornig an.
    Alle seine Erklärungen waren umsonst. Nachdem Ming die Version des Wächters vernommen hatte, befahl er, Ci hinauszuwerfen. Sofort stürzte sich ein halbes Dutzend Studenten auf ihn, sie schleiften ihn die Treppe hinunter, stießen ihn hinaus in den Garten und drohten ihm, dass sie beim nächsten Mal nicht so rücksichtsvoll sein würden.
    Ci klopfte sich den Staub ab, als ihm jemand einen Arm reichte, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Es war der Bedienstete, der den Eingang bewachte. Sobald er wieder auf den Beinen war, reichte ihm das Männlein eine Schale Reis. Ci machte ein fragendes Gesicht und bedankte sich.
    »Bedank dich beim Meister«, sagte der Pförtner und deutete in Richtung von dessen Arbeitszimmer. »Wenn du dich anständig benimmst, wird er dich morgen empfangen.«
    * * *
    Gierig verschlang Ci seine Portion, zu gierig, denn wenig später bekam er Magenkrämpfe von dem Reis und musstesich übergeben. Dann verblassten die letzten Sonnenstrahlen. Die Stunden wollten nicht vergehen.
    Wie ein Hund neben dem Eingang der Akademie liegend, verbrachte er die Nacht im Freien. Er machte kaum ein Auge zu, höchstens, um an Mei Mei zu denken, die Glückliche. Er konnte nicht viel mehr für sie tun, als sie in Ehren zu halten, wie den Rest seiner Familie, und zu hoffen, dass auch ihr Geist ihn beschützte.
    Am nächsten Morgen wachte Ci davon auf, dass ihn jemand rüttelte. Müde rieb er sich die Augen und erkannte den Bediensteten, der ihn drängte, aufzustehen und sich herzurichten. Ci strich sich über die Kleidung und steckte die Haare unter die Mütze. Dann folgte er dem Mann, der mit kleinen Schritten vor ihm her trippelte, als wären seine Füße zusammengebunden. Einen Moment blieb der Pförtner an einem Brunnen stehen, damit Ci sich erfrischen konnte, und setzte dann seinen Weg durch den Garten fort, bis sie die Bibliothek erreichten. Dort angelangt, verbeugte der Bedienstete sich vor dem Professor, der stumm in einem Buch blätterte, und zog sich unauffällig zurück.
    Ming klappte das Werk zu und legte es vor sich auf einen niedrigen Tisch.Er hob den Blick und musterte Ci neugierig.
    Ci verneigte sich, aber Ming hieß ihn näher kommen und Platz nehmen. Nervös wartete Ci, dass der Professor etwas sagte. Schließlich stand Ming auf.
    »Junger Freund, junger … Wie soll ich dich nennen?« Dabei wanderte er im Raum hin und her und zwirbelte seinen katzenhaften Bart. »Den hellsichtigen Aufklärer von Mordfällen? Oder vielleicht den überraschenden Eindringling in

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