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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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göttliche Offenbarung oder kosmische Spekulation. Die neue Philosophie hegte die Hoffnung, die westliche Gesellschaft von der politischen Theologie entwöhnen zu können und so ans andere Ufer zu gelangen. Was als Gedankenexperiment begann, wurde zum Versuch am lebenden Objekt, an uns. Ein Versuch im Übrigen, dem wir uns kollektiv angeschlossen haben. Heute ist die lange Tradition christlich fundierter politischer Theologie vergessen und mit ihr das jahrtausendealte Streben des Menschen, sein gesamtes Dasein Gott unterzuordnen. Das Experiment geht weiter, auch wenn uns nicht mehr bewusst ist, aus welchen Gründen es begonnen hat und welche Herausforderung dahinter stand. Doch diese Herausforderung ist heute noch lebendig.
    Verwundbarkeit macht Angst. Wir sehen dies an unseren Kindern. Sie lieben Märchen, in denen die dunklen Mächte, die ihre kleine Welt bedrohen, ans Tageslicht befördert und überwunden werden. In puncto politisches Denken verhalten wir uns wie Kinder: Wir blenden dessen experimentellen Charakter lieber aus. Viel mehr erzählen wir uns Geschichten darüber, wie unsere große Welt entstanden ist und warum sie weiterbestehen wird. Es gibt zahllose Legenden über den Lauf der Geschichte, die mit plakativen Worten ihre angeblichen Triebfedern beschreiben – Modernisierung, Säkularisierung, Demokratisierung, die »Entzauberung der Welt«, die »Geschichte als Gedanke und Tat« und dergleichen mehr. Dies sind die Märchen unserer Zeit. Ob sie nun von jenen, die sich mit dem Status quo wohlfühlen, in epischem Gestus vorgetragen oder von den Unzufriedenen, die sich nach einem verlorenen Paradies sehnen, mit tragischem Unterton erzählt werden, sie erfüllen innerhalb unserer intellektuellen Kultur dieselbe Funktion wie die Legenden von Hexen und Zauberern in der Fantasie unserer Kinder: Sie machen die Welt lesbar, versichern uns ihrer Unwiderruflichkeit und entheben uns der Verantwortung für deren Bewahrung.
    Der totgeglaubte Gott ist kein Märchen. Es ist ein Buch über die Verwundbarkeit unserer Welt, jener Welt, die aus der intellektuellen Rebellion gegen die politische Theologie des Westens geboren wurde. Das Thema mag ein wenig ungewohnt wirken, ja abwegig, angesichts der Tatsache, dass die westlichen Nationen augenblicklich miteinander in Frieden leben und dass die Normen der liberalen Demokratie, gerade was die Religion angeht, allgemein akzeptiert werden. Der Westen scheint eine Art historischer Demarkationslinie überschritten zu haben. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass aus unserer Mitte je wieder Theokratien entstehen oder bewaffnete Banden religiöser Fanatiker einen Bürgerkrieg anzetteln könnten. Und doch ist unsere Welt verwundbar – einerseits, weil unser politisches System seine Versprechen zunehmend nicht mehr einlöst, andererseits, weil unser politisches Denken gar keine Anstrengungen mehr unternimmt, überhaupt noch Versprechen zu formulieren.
    Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Was politische Theologie jeglicher Couleur so attraktiv macht, ist ihr »ganzheitlicher« Charakter. Sie bietet nicht nur die Möglichkeit, über die Organisation menschlichen Handelns nachzudenken, sondern unterfüttert dieses Denken mit allerlei erhabenem Gedankengut wie z. B. über das Wesen Gottes, die Beschaffenheit des Kosmos, die Natur der Seele, den Ursprung aller Dinge, das Ende der Zeit. Das Neue an der modernen politischen Philosophie war ja gerade, dass dieser umfassende Anspruch aufgelöst und die Reflexion über die politische Organisation der menschlichen Gesellschaft von theologischen Spekulationen über das, was sie transzendiert, abgekoppelt wurde. In gewissem Sinne war diese neue politische Philosophie bescheidener als die politische Theologie, an deren Stelle sie trat, da sie auf transzendente Elemente verzichtete, auf den Anspruch, politische Prinzipien durch Rückgriff auf die Offenbarung zu legitimieren. In psychologischer Hinsicht allerdings war sie höchst ambitioniert. Überall auf der Welt denkt der Mensch über die grundlegende Struktur der Wirklichkeit und den rechten Lebensweg nach. Von dort zur Spekulation über das Göttliche und den Glauben an eine Offenbarung ist es nur ein kleiner Schritt. Und von dort zur Überzeugung, dass ein derartiger Glaube Legitimationsquelle politischer Autorität sein kann, ein noch kleinerer. Wir kennen diesen Prozess aus den Geschichtsbüchern und in jüngster Zeit auch aus eigener Erfahrung. Im Westen wird auch heute noch über

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