Der totgeglaubte Gott
präsentierten. Ich persönlich bin zu der Ansicht gelangt, dass dies der Fall ist, doch möchte ich es dem Leser überlassen, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Die Debatte wird von den Anfängen bis zu ihrem Abschluss vorgestellt, doch ich beginne meine Darstellung von hinten her. Mein Ansatzpunkt war die Wiederauferstehung der messianischen politischen Theologie in Weimar, was mich zu den verschiedenen Schulen »liberaler Theologie« führte, die das protestantische und jüdische Denken im 19. Jahrhundert beherrschten. Von dort aus gelangte ich zu den Schriften über Politik und Religion der deutschen Idealisten Kant und Hegel und weiter zum Ursprung der modernen politischen Philosophie bei Hobbes und Rousseau. Und natürlich zu der grundlegenden Dynamik der christlichen politischen Theologie, der die frühen Denker der Moderne entkommen wollten. 2
Die Erkenntnis, dass das Experiment der Moderne fragil ist, sollte heilsam wirken. Tröstlich ist sie natürlich nicht. In diesem Buch finden sich keine Enthüllungen über irgendwelche verborgenen Aspekte der Geschichte, an deren Ende sich das Haupt einer Hydra abzeichnet, das es abzuschlagen gilt. Es gibt hier nichts, was sich feiern oder promoten ließe. Und schon gar keine praktischen Empfehlungen. Ich habe es quasi als Bestandsaufnahme geschrieben, damit wir fundierter darüber nachdenken können, wie wir heute leben und was nötig ist, wenn wir dieses Experiment fortführen wollen. Es ist reiner Zufall, dass das Buch zu einer Zeit geschrieben wurde und auf den Markt kam, in der uns die Herausforderungen der politischen Theologie wieder deutlich vor Augen geführt werden – doch möglicherweise ist das auch ein Glücksfall. Die Geschichte, die hier nachgezeichnet wird, soll uns daran erinnern, dass wir uns als moderne Gesellschaft keineswegs am Scheideweg finden zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder dem Westen und »dem Rest der Welt«, wie so häufig behauptet wird. Vielmehr müssen wir uns zwischen zwei großen Traditionen des Denkens entscheiden, zwei Wegen, die der menschliche Geist einschlagen kann. Wir müssen uns klar werden, welche Alternativen wir haben, uns für die ein oder andere entscheiden und mit den Konsequenzen unserer Wahl leben. Das ist die Grundbedingung des Menschseins.
Kapitel 1
Die Krise
Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch.
Lukas 17,21b
Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.
Johannes 18,36
Das Aufbegehren gegen die politische Theologie im Westen richtete sich gegen eine christlich geprägte Tradition. Es begann im 16. und 17. Jahrhundert als lokaler Konflikt eines bestimmten Glaubens mit einigen Monarchien in einer kleinen Ecke der Welt. Doch dieser Konflikt hatte weitreichende Auswirkungen auf den Westen und auf jedes Land, das in moderner Zeit versuchte, sich an westlichen politischen Ideen auszurichten. In der Auseinandersetzung zwischen christlich politischer Theologie und ihrem modernen Gegner zeigte sich etwas noch nie Dagewesenes: Ein vollkommen neues, von aller göttlichen Offenbarung abgelöstes politisches Denken brach sich Bahn. Was aber an der christlichen Tradition bewegte die Denker Europas dazu, die Traditionen des politischen Denkens so radikal zu durchbrechen? Das ist die erste Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen. Denn wie progressiv die politischen Ideen der Moderne auch erscheinen mögen, sie entstanden aus dem Kampf gegen eine archaische Tradition politischen Denkens, die bis in die Anfänge der Gesellschaft zurückreichte. Die politische Theologie des Christentums war nur eine Ausdrucksform dieser Tradition, und noch dazu eine außergewöhnlich instabile.
Gott, Mensch, Welt
Warum gibt es die politische Theologie überhaupt? Diese Frage begegnet uns in der Geschichte des westlichen Denkens immer wieder. Von der griechisch-römischen Antike an durchzieht sie unsere Geschichte bis auf den heutigen Tag. Und sie ist eng mit einer anderen Frage verflochten: Warum glaubt der Mensch an Gott?
Ursprung und Natur des religiösen Glaubens wurden vielfach untersucht. Wir werden noch Gelegenheit haben, einige der daraus resultierenden Theorien genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch wir sollten uns klarmachen, dass die Entstehung der politischen Theologie damit nur unzureichend erklärt wird. Der Glaube ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entwicklung der politischen Theologie. Menschen oder Zivilisationen können an Gott glauben, ohne dass dieser Glaube in politische
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