Der totgeglaubte Gott
Gott, den Menschen und die Welt nachgedacht. Warum auch nicht? Doch die meisten Menschen vollziehen den letzten Schritt, der mitten in die Politik hineinführt, gewöhnlich nicht mehr mit. Wir haben uns abgewöhnt, den politischen Diskurs mit dem theologischen und kosmologischen zu verknüpfen. Die Offenbarung ist für uns nicht länger Quelle politischer Autorität. Dies ist ein Beweis unserer Fähigkeit zur Selbstbeschränkung. Doch dass wir uns diesbezüglich Grenzen auferlegen müssen, sollte uns zu denken geben.
Unsere Verwundbarkeit ist nicht institutioneller, sondern intellektueller Natur. Die dogmatischen politischen Theologien, die den Westen über ein Jahrtausend lang geprägt haben, haben ihren Einfluss auf das westliche Denken möglicherweise eingebüßt. Doch den Fragen, die die politische Theologie aufwirft, kann sich niemand entziehen, auch jene nicht, die mit überkommener Religiosität nichts anfangen können. Und die Antworten müssen auch nicht im Rahmen der Konvention stehen bleiben. Die politische Theologie ist eine Denkform, eine geistige Gewohnheit. Daher steht sie seit jeher als Alternative neben jenen Institutionen, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Auch wenn die politische Theologie vielleicht nicht vermag, diese Institutionen auszuhebeln, so kann sie doch unsere Sicht von ihnen verzerren. Aus diesem Grund sind wir es uns – wie die frühen politischen Philosophen der Moderne es formulierten – selbst schuldig, die Natur der politischen Theologie zu erforschen und die intellektuelle Herausforderung anzunehmen, die sie für unser modernes Denken darstellt. Nicht ohne Grund beginnen ihre größten Werke nicht mit der Diskussion hehrer Prinzipien, sondern mit der gründlichen Untersuchung des Wahrheitsanspruches von Offenbarungen und der Psychologie des Glaubens. Ihnen war klar, dass die Prinzipien, die ihnen heilig waren – Trennung von Kirche und Staat, Recht zur individuellen und kollektiven Glaubensausübung, Gewissensfreiheit, religiöse Toleranz – nur dann fest verankert werden konnten, wenn die Fragen der politischen Theologie geklärt würden. Die zeitgenössische politische Philosophie hält es nicht mehr für nötig, sich mit der politischen Theologie auseinanderzusetzen. Dies ist Zeugnis für ihr immenses Vertrauen in den Fortbestand unseres Experiments und seiner universellen Gültigkeit. Ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, kann jeder für sich entscheiden: beim allmorgendlichen Blick in die Zeitung.
Wir müssen das Spannungsfeld zwischen der politischen Theologie und der modernen politischen Philosophie erneut in den Blick nehmen. Dies ist keine einfache Aufgabe, da wir heute bildlich gesprochen am anderen Ufer leben. Wir wissen nicht mehr, worum es bei der politischen Theologie eigentlich geht, warum sie jahrhundertelang für die Menschen so attraktiv war und warum sie in bestimmten Ländern und Kulturen heute noch so starke Anziehungskraft besitzt. Da wir heute über diese Zusammenhänge so wenig Bescheid wissen, können wir nicht mehr sicher sein, dass wir uns selbst verstehen.
Der totgeglaubte Gott geht diesem Spannungsverhältnis nach. Das Buch zeichnet die Geschichte einer Debatte zwischen Religion und Politik nach, die im Westen über vierhundert Jahre andauerte. Sie setzte im England des 17. Jahrhunderts ein und endete im 20. Jahrhundert in Deutschland. Dabei geht es nicht darum, die Auseinandersetzungen zwischen Religion und Politik in dieser Zeit in einer umfassenden Studie nachzuzeichnen, da solch ein Vorhaben mehrere Bände füllen würde. Vielmehr will ich den Leser exemplarisch durch die einzelnen Phasen einer Debatte führen, in der die Auseinandersetzung zwischen politischer Theologie und ihrem modernen philosophischen Widerpart von beiden Seiten mit leidenschaftlichen Diskussionen und klaren Ansagen besonders intensiv geführt wurde. Dieses Buch ist eine Ideengeschichte in Episoden, die mit jenen großen Denkern einsetzt, die aus Sorge über den messianischen Eifer, welcher das politische Leben Europas damals erfasst hatte, eine moderne intellektuelle Alternative zur politischen Theologie suchten. Es schließt mit jenen Philosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts, die – ob aus der jüdischen oder christlichen Tradition kommend – sich gegen diesen intellektuellen Ansatz zur Wehr setzten, um eine moderne politische Theologie zu begründen, von der sie sich eine Wiederbelebung des messianischen Impulses im westlichen Leben erhofften.
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