Der totgeglaubte Gott
Ideen umgemünzt wird. So wie es Religionen ohne theologischen Überbau gibt, so gibt es auch solche, in denen es nicht zur Ausprägung politischer Theologien kommt. Die eigentliche Frage ist also: Wieso wird aus bestimmten religiösen Glaubenssätzen eine politische Doktrin? Welche Begründungen werden angeführt, wenn Menschen sich in ihren politischen Vorstellungen auf Gott berufen?
Diese Gründe geben uns den Schlüssel zum Verständnis der politischen Theologie an die Hand. Das Gros der Theorien religiösen Empfindens betrachtet den Glauben aus einer gleichsam auktorialen Perspektive: Religion ist etwas, das den Menschen geschieht. Sie ist entweder Frucht von Unwissenheit und Angst oder Ausdruck des kollektiven Unbewussten einer Gesellschaft. Die politische Theologie hingegen ist eine Verstandessache. Eine Aktivität, kein seelischer Zustand. Aus der subjektiven Perspektive betrachtet ist Religion eine Wahl, möglicherweise sogar eine rationale Entscheidung, sowohl für das Individuum wie auch für die Gesellschaft. Wir alle stehen vor dieser impliziten Alternative: Entweder leben wir im Licht dessen, was wir als göttliche Offenbarung sehen, oder wir leben anders. Diese freie Entscheidung ist nicht unter allen historischen Umständen gegeben. Doch wir wissen ebenfalls, dass der Mensch seit unvordenklicher Zeit über das Göttliche spekuliert und nachdenkt, dass er aufgrund dieses Nachdenkens seinen Glauben und die Gesellschaft verändert, und dass er an bestimmten entscheidenden Punkten seiner Entwicklung eine intellektuelle Alternative zur theologischen Argumentation in Betracht gezogen hat. Wir leben ja schließlich nicht in einem eisernen Käfig, dessen Stäbe aus ererbten Ideen, Riten und Bildern des Göttlichen bestehen. Noch sind wir Teil eines wie auch immer gearteten historischen Prozesses, der in einer religiösen Welt begann und zwangsläufig in einer areligiösen Welt münden müsste. Vom Standpunkt des Subjekts aus gesehen empfinden wir uns als denkende, kritische Geschöpfe, die wir die Alternativen, die vor uns liegen, beurteilen können. Daher sind wir auch genau das.
Wenn wir uns erlauben, von innen her statt von außen den Blick auf uns zu richten, merken wir schnell, dass die Frage nach Gott sich jedem denkenden Geist stellen kann, und zwar zu jeder Zeit. Und sobald diese Frage im Raum steht, entspringen ihr viele neue Fragestellungen, unter anderem auch die der klassischen politischen Theologie. Die politische Theologie ist möglicherweise kein konstitutives Merkmal jeder Gesellschaft, doch sie ist eine Alternative, die dem denkenden Geist stets offensteht – unter anderen.
Überlegen wir doch einmal, was passiert, wenn sich der Mensch den traditionellen theologisch-politischen Fragestellungen zuwendet. Sobald der Mensch sich seiner selbst bewusst wird, entdeckt er, dass er in einer Welt lebt, die er nicht selbst geschaffen hat. Er lebt in einem Ganzen, von dem er nur ein Teil ist. Er bemerkt, dass er denselben physikalischen Gesetzen unterworfen ist wie die unbelebten Objekte um ihn herum. Wie die Pflanzen, so braucht auch er Nahrung und reproduziert sich selbst. Wie die Tiere lebt er in Gemeinschaft mit anderen, baut sich ein Obdach, trägt seine Kämpfe aus und hat Empfindungen. Natürlich wird dieses menschliche Wesen merken, inwiefern es sich von anderen Objekten und Geschöpfen der Natur unterscheidet, doch wird es selbstverständlich auch erkennen, in welcher Hinsicht es ihnen ähnlich ist. Der Mensch nimmt die Welt ja nicht mit unbeteiligtem Blick wahr, sondern gleichsam als Objekt der Kontemplation. Er sieht sie aus seiner inneren Perspektive und wird schnell merken, dass er von ihr abhängig ist. Möglicherweise kommt ihm dann der Gedanke, dass er sich selbst nur verstehen kann, wenn er das Ganze versteht, dessen Teil er ist. Wenn der Mensch in den Kosmos eingebettet ist, dann bedeutet Verständnis des Menschen auch Verständnis des Kosmos.
Wenn wir nun anfangen, über den Kosmos nachzudenken, kann es passieren, dass wir uns Antworten überlegen, die mit Gott zu tun haben. Auch dies ist eine logische Konsequenz. Der Ursprung des Universums, in dem wir leben, ist unbekannt, doch scheint es gewissen Gesetzmäßigkeiten zu unterliegen. »Warum ist das wohl so?«, fragen wir uns. Wir wissen, dass die Dinge, die wir hervorbringen, sich auf eine vorhersehbare Weise verhalten, weil wir sie daraufhin konstruiert haben. Wir spannen den Bogen, der Pfeil fliegt los. Zu diesem Zweck wurde
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