Der träumende Delphin
gesehen oder erlebt hatte.
Er war auf der Suche nach jener perfekten Welle, die ihm eines Tages zeigen würde, worin der wahre Sinn seines Lebens lag.
So versuchte Daniel in den folgenden Tagen zu verstehen, wohin sein Traum ihn führte. Anstatt nur zu versuchen, möglichst gut zu surfen, horchte er jedesmal, wenn er eine neue Technik beherrschte, die seinen Bewegungen noch größere Freiheit verlieh, in sein Herz hinein. Er gab sich die größte Mühe und achtete auf jedes Detail.
Er hatte begonnen, auf dem äußeren Riff, einem Teil der Insel, über den hinaus sich noch kein Delphin vorgewagt hatte und zu dem jedem Mitglied des Schwarms per Gesetz der Zugang verboten war, seine Experimente zu machen.
Just in dem Moment, als er vor lauter Verzweiflung schon aufgeben wollte, erinnerte er sich an die Worte des Meeres:
»Es kommt eine Zeit im Leben, da bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu gehen...«
Er dachte daran, wie er diese Worte der Weisheit zum ersten Mal vernommen hatte; aber jetzt erst machte sich die Erkenntnis in seinem Herzen breit, und er begriff, was das Meer ihm hatte sagen wollen.
Nun verstand er, wofür all das Üben und die vielen Stunden, in denen er an seiner Technik, seinem Selbstvertrauen und seiner Kraft gearbeitet hatte, gut gewesen waren.
Er mußte den großen Sprung ins Unbekannte wagen, fort von der Sicherheit seines Riffs; dorthin, wo die Gesetze des Schwarms keinen Wert und keine Bedeutung mehr hatten. Um für sich den wahren Sinn des Lebens zu finden, mußte Daniel Delphin alles hinter sich lassen, was ihn bisher eingeschränkt hatte.
»Jetzt verstehe ich!« sagte er mit triumphierender Stimme. »Die perfekte Welle kommt nicht auf mich zu. Ich muß sie selbst finden!«
Diese neue Erkenntnis ließ Erinnerungen in Daniel hochkommen. Er dachte daran, wie er als Delphinjunges dem Delphinältesten gelauscht hatte, der davon sprach, was es bedeutete, das Riff zu verlassen. Mit feierlicher Stimme hatte er gesagt:
»Wir dürfen das innere Riff, das unsere Welt umschließt, nicht verlassen. Seit Anbeginn der Zeiten liegt es dort und hat uns immer vor den Gefahren geschützt, die jenseits davon drohen. Wir müssen die göttliche Entscheidung respektieren, indem wir das Gesetz achten.«
»Komisch«, dachte Daniel. Er hatte gelernt, den Delphinältesten und seine Überzeugungen zu respektieren und zugleich seinen eigenen Lebensprinzipien und dem, was das Meer ihn gelehrt hatte, zu folgen. Würde der Delphinälteste es respektieren, wenn er eine Entscheidung traf, die alle Grundsätze, nach denen das Leben des Schwarms geregelt war, über den Haufen warf?
Daniel rechnete nicht damit.
So beschloß er noch am selben Abend, niemandem zu erzählen, was er vorhatte und wohin er aufbrach. Er würde den Schwarm so still und heimlich verlassen, wie er es immer getan hatte, wenn er spät am Abend noch einmal zum Wellenreiten loszog. Nur würde er dieses Mal nicht zurückkehren. Der Schwarm würde glauben, daß er, wie es ja alle prophezeit hatten, ertrunken war. Daß er dafür, ihren Rat nicht befolgt zu haben, mit dem Leben bezahlt hatte. Alle würden darüber reden, welche Konsequenzen es hatte, wenn man das Gesetz mißachtete und sich nicht an die Regeln hielt.
Den Tag, an dem Daniel Delphin sein geliebtes Riff hinter sich ließ, würde er niemals vergessen. Er hatte seinen Weggang gut vorbereitet und war sicher, daß er auf jedes kleinste Detail geachtet hatte. Das einzige, was ihn ein wenig betrübte, war der Gedanke, daß unter all jenen Fremden, aus denen sein Schwarm schließlich bestand, womöglich der eine oder andere Delphin doch traurig über die Nachricht seines angeblichen Todes sein würde, weil er tief in seinem Inneren geglaubt hatte, daß der verrückte Daniel vielleicht - und wirklich nur vielleicht - gar nicht so falsch lag. Daniel fragte sich, ob er nicht doch noch ein bißchen bleiben sollte, nur für den Fall, daß es im Schwarm möglicherweise jemanden gab wie ihn, jemanden, der auch auf der Suche nach einem höheren Ziel im Leben war...
Vielleicht bedeutet Liebe auch lernen,
jemanden gehen zu lassen,
wissen, wann es Abschiednehmen heißt.
Nicht zulassen, daß unsere Gefühle dem im Weg stehen,
was am Ende wahrscheinlich besser ist für die, die wir lieben.
So brach Daniel an diesem Abend auf zum äußeren Riff. Sein einziger Zeuge war der Vollmond, der schwer am Himmel hing, sein einziges Ziel die Erfüllung seines Traums. Er war ein
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