Der Träumer
Sonne durch die fahlen Wolken, und ich wage es, die Arme weit von mir zu strecken und tief zu atmen in der gewitterschwülen Luft.
Ach ja, es ist schon etwas Besonderes, ein Mädchen zu lieben, das Paulchen heißt, aber ist es nicht ein ewiges Geheimnis dieses Lebens, daß der Liebende nicht wagt, manches in den Glanz der Augen der Geliebten hineinzusprechen, das er mit jubelndem Herzen zu schreiben vermag?
Oh, laß mir die Scheu vor dem Wort, denn lauter als die Zunge ist die Seele, glänzender als das offene Bekenntnis ist die verhaltene Träne des Glücks in den Winkeln der Augen. Ja, laß uns demütig sein vor dem Gefühl und uns schweigsam die Hände reichen. Weit offen ist das Tor der Zukunft, und zum Blumenpfad wird uns der felsige Weg, wenn wir ihn gemeinsam beschreiten.
Wenn ich an Paulchen denke, weiß ich, warum ich lebe.
Ja, es war bestimmt nur jener unwiderstehliche Drang der Sehnsucht, der mich veranlaßte, hinein in die große Stadt zu Paulchen zu fahren. Aber ich wollte mir diesen Drang selbst nicht eingestehen, ich unterdrückte ihn in meinem Inneren und auch nach außen hin, denn wo kämen wir Männer hin, wenn wir unsere Gefühle auf der Zunge oder in den Augen, die leuchten, zur Schau trügen und unsere Masken der ›angeborenen‹ Überlegenheit einmal ein klein wenig lüfteten?
In der Stadt gab es den Balken-Verlag, und das war Anstoß genug, den Sprung aus der Abgeschiedenheit zu unternehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, ich könnte der Spielball einer plötzlich aufgeflammten Leidenschaft sein.
Es ist nicht weit von meinem westfälischen Städtchen bis in diese Großstadt, aber gestern war es eine Tagesfahrt, da das Land noch schwer unter den Nachwehen des Krieges zu leiden hat und die Wunden der Erde die Bewegungen der Menschen hemmen. Man mußte, wollte man am Morgen in der Stadt eintreffen, in den nächsten Kreisort fahren und dort übernachten, um mit dem Zug jenes Trümmermeer zu erreichen, das einmal eine blühende Hansemetropole gewesen ist.
Aber was machte mir das aus! Was war eine schlaflose Nacht gegen die tief in der Brust brennende Wonne, Paulchen zu sehen, mit ihr zu sprechen, ihr zuzuhören, und war es auch nur für die kurzen Stunden eines in rasender Eile verfliegenden Besuches!
Wer abends in einer fremden Stadt eintrifft, auf die ebenfalls die Faust des Krieges herniedersauste – und dies nicht nur einmal –, der suche nicht nach erstklassigen Hotels mit weichen Daunenbetten, sondern schraube von vornherein seine Ansprüche zurück und freue sich, einen einfachen Gasthof zu finden, der wenigstens sauber und gediegen ist. Es gelang mir, in einer solchen Wirtschaft ein Zimmerchen zu ergattern, hoch oben unter dem Dach, mit schrägen Wänden, eingerichtet wie eine Puppenstube mit einem weißen Bett, einem Schrank und einer Waschkommode im grauenvollen Jugendstil. Das stört nicht einen Liebenden, der durch das Dunkel einer fremden Stadt mehr schwebte als ging, der jederzeit bereit war, unter allem möglichen zu leiden wie ein Fakir, um sich seiner Liebe würdig zu erweisen.
Quartier Latin, sagte ich mir, als ich im Bett lag, jene Waschkommode und eine rosarote, geblümte Tapete vor Augen, Quartier Latin – wahrhaftig, selbst Paris kommt dir in deinen Lebenskreis zurück mit allen schmerzlichen und süßlichen Erinnerungen, jetzt, wo du ganz woanders bist, nämlich auf der Reise zur erträumten Ergänzung deines Lebens.
Die Herzen zweier Liebender sollen innerlich erglühen bei dem Gedanken, zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenzufügen die getrennten Teile der jeweiligen eigenen Welt.
Vom Gastzimmer herauf dringt das Klimpern eines, alten, recht verstimmten Klaviers. Ein Schlager, den vielleicht ein Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel herunterhämmert. In einer Dachstube nebenan trällert eine helle Mädchenstimme, ein träumerischverliebtes Zigeunerlied. Der Gesang bricht ab, setzt wieder ein. Ob das Mädchen heute nacht seinen Schatz erwartet? Horch – knarrt da nicht die Treppe?
Ach, trällerndes Mädchen, du scheinst jung zu sein, sehr jung, so jung, wie ich es noch einmal sein möchte, und auch so unbeschwert im Geben und Nehmen. Du liebst, weil du lieben mußt, du lebst leicht und froh und erhebst dich und schwebst wie ein Falter um die Kerze und machst dir keine Gedanken, wie gefährlich die Flamme ist, die still und rein darauf wartet, daß du ihr zu nahe kommst. Davor hast du keine Angst, weil du dir, wie gesagt, keine Gedanken darüber machst. Du
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