Der Traum der Hebamme / Roman
zurückgenommen. Zuallererst würde Marthe Gott um die glückliche Rückkehr ihres Sohnes bitten, um das Wiedersehen mit Thomas und mit Roland, dem einzigen Sohn ihres Freundes Raimund. Und er selbst sollte auch vom Allmächtigen besser Beistand in den bevorstehenden Kämpfen erflehen.
Dass der Thüringer Landgraf nur unter einer besonderen Bedingung bereit war, den Herrn des benachbarten Weißenfels zu unterstützen, gefiel Lukas ganz und gar nicht. Deshalb beschloss er, sein Morgengebet dieser Angelegenheit zu widmen statt seinem persönlichen Schlachtenglück.
Marthes Gedanken hingegen kreisten immer heftiger um einen Punkt, von dem sie Lukas nichts verraten würde.
Sie war sich sicher: Was nun geschehen würde, war der Beginn einer langen Reihe von Ereignissen, mit denen sich alles entscheiden würde. Alles, wofür sie gekämpft hatten und wofür ihr geliebter Christian gestorben war. Ob sich die Hoffnung der Siedler auf ein besseres Leben eines Tages erfüllen würde oder die dunklen Zeiten auf ewig andauerten. Und in ihr machte sich die Ahnung breit, dass es sie diesmal das höchste Opfer kosten konnte.
In ihren siebenunddreißig Lebensjahren war sie schon so oft tödlichen Gefahren entronnen, sie hatte so viel durchleiden müssen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt noch lebte und es ihr gutging. Manchmal war sie so verzweifelt gewesen, dass sie den Tod herbeisehnte. Ob sie ihm wohl gelassen genug entgegentreten konnte, wenn es so weit war? Oder ob sie doch mehr am Leben hing, als sie glaubte?
Ein Blick zum Himmel nach der Morgenmesse vertiefte Lukas’ Sorge. Dunkle Wolken dräuten über der Wartburg, auf einer Seite des Tales schien es bereits zu regnen. Da der Landgraf an diesem Tag zur Jagd reiten wollte, würde das seine Stimmung nicht gerade fördern. Und sein Entgegenkommen gewiss auch nicht.
Doch anscheinend hatte der Fürst den Befehl zum Ausreiten noch nicht widerrufen. Als Lukas und Marthe den langen, schmalen Burghof überquerten, um in den prachtvollen Saal zu gelangen, wo der Fürst und seine Ritter die Mahlzeiten einnahmen, waren die Stallknechte dabei, die Pferde der Jagdgesellschaft zu striegeln und zu satteln.
Das hieß, sie mussten sich beeilen, wenn sie Hermann noch vor dem Aufbruch sprechen wollten.
»Ich zerbreche mir schon den halben Morgen den Kopf darüber, wie ich meine Bitte begründen soll«, gestand Lukas. Sich auf Eingebungen seiner hellsichtigen Frau zu berufen, kam leider nicht in Frage.
Marthe verharrte einen Moment. Dann sah sie zum Tor, und Lukas folgte ihrem Blick. Hätte er je Zweifel gehabt an den Ahnungen seiner Frau – spätestens in diesem Augenblick wären sie verflogen. Denn er kannte den jungen Mann, der mit großen Schritten geradewegs auf sie zuhielt: Wito, einer der Reisigen seines Freundes Raimund von Muldental, der verwegenste und schnellste Reiter in dessen Diensten. Er musste wohl in der Stadt übernachtet haben und gleich bei Tagesanbruch losgeritten sein.
Voller Anspannung lief Lukas ihm entgegen.
»Du bringst wichtige Nachricht?«
Der junge Bote nickte wortlos und sah sich misstrauisch um. Er wirkte müde und ungewohnt düster; vielleicht war er sogar die Nacht lang durchgeritten. Sein hellbraunes Haar war verschwitzt, sein Gesicht voller Stoppeln. Es lagen fast einhundertfünfzig Meilen zwischen Raimunds Gütern im Muldental und Eisenach; Wito konnte in den letzten vier oder fünf Tagen kaum aus dem Sattel gekommen sein, wenn die Nachricht so dringend war, wie Lukas vermutete.
Der gesamte Hof der Hauptburg war mittlerweile voll von Menschen und Pferden. Rasch zog Lukas den jungen Reiter Richtung Mauer, wo sie bei dem Gedränge wenigstens nicht im Weg standen und überschauen konnten, wer in ihre Nähe kam. Marthe hastete ihnen hinterher.
»Der Markgraf von Meißen wird in spätestens vier Tagen seinen Bruder angreifen«, sagte Wito mit heiserer Stimme.
»Ist das sicher?«, fragte Lukas. Wenn es stimmte, mussten sie sofort aufbrechen, um vor dem Feind in Weißenfels zu sein. Es waren drei Tagesritte bei straffem Tempo bis dorthin. Vielleicht sollte er doch ohne Marthe reiten, um schneller zu sein. Aber wenn Raimund sich irrte, kam er vielleicht zu spät und würde Albrecht direkt in die Hände geraten.
»Ich kann Euch nicht sagen, woher mein Herr das weiß. Aber er scheint sich völlig sicher und hat auch schon Nachricht nach Weißenfels gesandt. Er selbst und die Herrin können nicht fort.«
»Lässt Albrecht sie
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