Der Traum des Kelten
sengender Sonne oder heftigem Platzregen, Träger und Machetenarbeiter anzuleiten, die »Sansibarer« zu befehligen, die Arbeit der Trupps zu überwachen,die den Boden für die Schwellen einebneten, feststampften und befestigten, das dichte Buschwerk lichteten, gaben ihm das Gefühl, ein Werk zu vollbringen, aus dem Europäer wie Afrikaner, Kolonialisten wie Kolonisierte, Nutzen ziehen würden. Herbert Ward sagte einmal zu ihm: »Als ich dich kennenlernte, hielt ich dich nur für einen Abenteurer. Jetzt weiß ich, dass du ein Mystiker bist.«
Weniger gefiel es Roger, sich aus dem Urwald hinaus in die Dörfer zu begeben und die Lastenträger und Machetenarbeiter für die Eisenbahn zu organisieren. Der Mangel an Arbeitskräften war zum Hauptproblem des stetig wachsenden Kongo-Freistaates geworden. Trotz der »Verträge«, die sie unterschrieben hatten, weigerten sich die Stammesoberhäupter, die inzwischen durchschauten, was man wirklich von ihnen wollte, dem Unternehmen Männer zu überlassen. Als Roger noch bei der Sanford Exploring Expedition arbeitete, gelang es ihm, diesen Widerstand zu brechen, indem er, obwohl das Gesetz dies nicht vorsah, im Namen seiner Gesellschaft einen kleinen Lohn versprach, der normalerweise in Naturalien ausbezahlt wurde. Auch andere Unternehmen führten diese Praxis ein. Dennoch blieb es schwierig, Leute aufzutreiben. Die Oberhäupter brachten vor, dass sie nicht auf Stammesmitglieder verzichten könnten, die durch Feldarbeit, Jagen und Fischen das Dorf ernährten. Häufig versteckten sich die Männer in arbeitsfähigem Alter im Busch, wenn die Rekrutierer nahten. Dann wurde auf Strafexpeditionen, Zwangsrekrutierungen und die Maßnahme zurückgegriffen, die Frauen in den sogenannten Maisons d’Otages, Geiselhäusern, einzusperren, damit die Männer nicht fortliefen.
Sowohl unter Stanley als auch im Rahmen von Henry Shelton Sanfords Expedition war Roger regelmäßig dafür zuständig, mit den Stämmen die Übergabe von Arbeitern auszuhandeln. Sein Sprachtalent gereichte ihm dabei zum Vorteil, und mit der zusätzlichen Hilfe von Übersetzern konnte er sich auf Kikongo und Lingala – später auch auf Swahili – verständlich machen. Wenn die Einheimischen ihn ihre eigene Spracheradebrechen hörten, verminderte das ihr Misstrauen. Seine sanften Umgangsformen, seine Geduld und seine respektvolle Haltung erleichterten den Dialog, ganz abgesehen von den Geschenken, die er mitbrachte: Kleidung, Messer und andere Gebrauchsgegenstände sowie Glasperlenschmuck, der überall so großen Anklang fand. Üblicherweise kehrte er mit einem halben Dutzend Männer zum Waldroden und Lastentragen ins Lager zurück. Man sagte ihm bald nach, ein »Negerfreund« zu sein, was einige unter seinen Kollegen mit Herablassung kommentierten und bei anderen, vor allem manchen Offizieren der Force Publique, offene Verachtung hervorrief.
Roger bereiteten diese Besuche in den Dörfern ein mit den Jahren wachsendes Unbehagen. Anfangs hatte er sie noch gern absolviert, weil sie seine Neugierde befriedigten, mehr über die Bräuche und Praktiken, über die Sprache, Tänze, Gesänge, die Kleidung und Ernährungsgewohnheiten dieser Menschen zu erfahren, deren naive Unschuld mit grausamen Ritualen einherging: In manchen Stämmen etwa wurden Zwillinge geopfert oder eine bestimmte Anzahl von Dienern – fast immer Sklaven – getötet und mit den verstorbenen Oberhäuptern begraben, ganz zu schweigen von dem fürchterlichen Kannibalismus einiger Gemeinschaften. Die Verhandlungen hinterließen in Roger eine Beklommenheit, das Gefühl, ein falsches Spiel mit diesen Menschen aus einer anderen Zeit getrieben zu haben, die ihn, sosehr er sich auch darum bemühte, niemals wirklich verstehen würden, weshalb ihn trotz aller Versuche, die Eingeborenen nicht zu übervorteilen, ein schlechtes Gewissen befiel, gegen seine Überzeugungen, gegen die Moral und gegen das »Erste Prinzip« gehandelt zu haben, wie er Gott nannte.
Und so reichte er nach kaum einem Jahr bei Stanleys Chemin de fer im Dezember 1888 seine Kündigung ein und reiste nach Ngombe Lutete, um dort in der baptistischen Mission des Ehepaars Bentley zu arbeiten. Zu diesem Entschluss kam er unverhofft durch eine nächtliche Unterhaltung, die er in Matadi mit einem Durchreisenden geführt hatte. TheodoreHorte hatte als Offizier bei der britischen Marine gedient. Er war aus dem Militärdienst ausgetreten, um im Kongo baptistischer Missionar zu werden. Die Baptisten waren
Weitere Kostenlose Bücher