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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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über weite Strecken unpassierbar machte. Die Florida sollte deshalb auf dem Landweg bis zum Stanley Pool gebracht werden, in Hunderte Einzelteile zerlegt, die nummeriert und verpackt auf den Schultern der einheimischen Träger die vierhundertachtundsiebzig Kilometer der Karawanenroute transportiert werden sollten. Roger wurde das größte und schwerste Teil anvertraut: der Schiffsrumpf. Er kümmerte sich um alles. Angefangen beim Bau eines riesigen Karrens, auf den der Rumpf gehievt wurde, bis zur Rekrutierung Hunderter Träger und Machetenarbeiter, die den Weg freischlugen und diese gewaltige Fracht über die Höhen und durch die Schluchten der Kristallberge zerrten. Er half mit bei der Aufschüttung von Erdwällen, der Errichtung der Zeltlager, versorgte Kranke und Verunglückte, schlichtete Streitigkeiten zwischenAngehörigen der verschiedenen Stämme, teilte die Schichten der Wachposten ein, koordinierte die Essensausgabe, organisierte Jagd und Fischfang, wenn die Lebensmittel knapp wurden. Es waren drei Monate voller Widrigkeiten und Gefahren, die ihn dennoch mit einem ständigen Hochgefühl und dem Bewusstsein erfüllten, im Kampf gegen die feindliche Natur einen Beitrag zum Fortschritt zu leisten. Und das, wie Roger in den folgenden Jahren oft wiederholen sollte, ohne von der Chicotte Gebrauch zu machen, was er den Aufsehern verboten hatte, die auch »Sansibarer« genannt wurden, weil sie entweder tatsächlich aus Sansibar kamen, der Hauptstadt des Sklavenhandels, oder weil sie den Sklavenhändlern an Grausamkeit in nichts nachstanden.
    Nachdem die Florida an der großen Lagune des Stanley Pool schließlich wieder zusammengebaut und zu Wasser gelassen worden war, fuhr Roger den Mittel- und Oberlauf des Kongos mit hinauf, um den Transport und die Warenlagerung in Ortschaften zu gewährleisten, die er Jahre später, auf seiner Reise im Winter 1903, erneut besuchen würde: Bolobo, Lukolela, die Region von Irebu und schließlich die Station Coquilhatville, ehemals Equateurville.
    Der Zwischenfall mit Leutnant Francqui, der im Unterschied zu Roger keinerlei Vorbehalte gegen den Einsatz der Chicotte kannte, sie vielmehr freizügig gebrauchte, ereignete sich während Rogers Rückkehr von einer Reise in die Provinz Äquator, etwa fünfzig Kilometer flussaufwärts von Boma, in einem winzigen namenlosen Weiler. Leutnant Francqui hatte mit acht unter seinem Befehl stehenden einheimischen Soldaten der Force Publique eine Strafexpedition wegen des alten Problems der Träger unternommen. Nie waren es genug, um die Waren der Karawanen zu schultern, die zwischen Boma-Matadi und Léopoldville-Stanley Pool hin- und herreisten. Da die Stämme sich weigerten, mehr Leute für diese zermürbende Tätigkeit zur Verfügung zu stellen, unternahm die Force Publique, wie bisweilen auch die privaten Konzessionäre, Vorstöße in die aufmüpfigen Dörfer, wo nicht nur die arbeitsfähigenMänner gefesselt und mitgenommen, sondern gleich noch ein paar Hütten angezündet, Felle, Elfenbein und Tiere beschlagnahmt wurden und die Oberhäupter eine ordentliche Tracht Prügel verabreicht bekamen, damit sie in Zukunft ihren Verpflichtungen besser nachkämen.
    Als Roger mit seiner kleinen Truppe von fünf Trägern und einem »Sansibarer« das Dorf betrat, waren die drei oder vier Hütten schon niedergebrannt und die Bewohner geflohen. Mit Ausnahme eines Jungen, beinahe noch ein Kind, der auf dem Boden lag, Hände und Füße an Pflöcke gefesselt, und auf dessen Rücken Leutnant Francqui mit einer Chicotte seinen ganzen Unmut ausließ. Normalerweise übernahmen das Auspeitschen die Soldaten, nicht die Offiziere. Der Leutnant betrachtete die Flucht der Dorfbewohner offenbar als eine persönliche Beleidigung und wollte sich selbst dafür rächen. Die Zornesröte stand ihm im schweißnassen Gesicht, und mit jedem Peitschenhieb stieß er ein vernehmbares Schnauben aus. Das Auftauchen von Roger und dessen Truppe schien ihn nicht zu stören. Er beschränkte sich darauf, Rogers Gruß mit einem Kopfnicken zu beantworten, ohne die Maßregelung zu unterbrechen. Der Junge hatte längst das Bewusstsein verloren. Sein Rücken und seine Beine waren blutig zerschunden, doch später sollte sich Roger vor allem an ein Detail erinnern: an dem kleinen nackten Körper zog eine Ameisenstraße vorbei.
    »Sie haben kein Recht, so etwas zu tun, Leutnant Francqui«, rief er auf Französisch. »Es reicht jetzt!«
    Der untersetzte Offizier senkte die Chicotte und drehte

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