Der Traum des Kelten
dem Schwierigsten, was ich in meinem ganzen Leben zu bewältigen hatte«, begrüßte ihn Alice und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich dachte, es würde mir nie gelingen. Aber hier bin ich nun.«
Alice Stopford Green wirkte kühl, überlegt und unaufgeregt, doch Roger kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie zutiefst bewegt war. Er bemerkte das leise Beben in ihrer Stimme, und das Flattern ihrer Nasenflügel deutete darauf hin, dass etwas ihr Sorgen bereitete. Trotz ihrer beinahe siebzig Jahre hatte sie sich eine jugendliche Gestalt bewahrt. Die Falten konnten weder die Frische ihres sommersprossigen Gesichts noch den Glanz ihrer klug blitzenden Augen mindern. Sie war wie stets schlicht und elegant gekleidet, trug ein helles Kostüm mit luftiger Bluse und hohe Stiefeletten.
»Welche Freude, liebe Alice, welche Freude«, sagte Roger und nahm ihre Hände in seine. »Ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen.«
»Ich habe dir Bücher, etwas Süßes und Kleidung mitgebracht, aber die Wärter am Eingang haben mir alles weggenommen.« Sie sah hilflos aus. »Es tut mir leid. Geht es dir gut?«
»Ja, ja«, sagte Roger hastig. »Du hast die ganze Zeit über so viel für mich getan. Gibt es noch nichts Neues?«
»Das Kabinett tritt am Donnerstag zusammen«, sagte sie. »Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass deine Angelegenheit ganz oben auf der Tagesordnung steht. Wir tun alles Mögliche und Unmögliche, Roger. Das Gesuch hat beinahe fünfzig Unterschriften, lauter bekannte Persönlichkeiten. Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Politiker. John Devoy hat uns versichert, dass jeden Moment das Telegramm des Präsidenten der Vereinigten Staaten bei der englischen Regierung eintreffenmüsse. Alle Freunde sind mobilisiert, um diese schmähliche Pressekampagne zu ersticken, ich meine zu widerlegen. Du weißt doch davon, nicht wahr?«
»In etwa«, sagte Roger mit unwilliger Miene. »Nachrichten von außen dringen nicht bis hierher, und die Wärter haben Befehl, nicht mit mir zu sprechen. Das tut nur der Sheriff, aber auch nur, um mich zu beschimpfen. Glaubst du, es besteht noch eine Chance, Alice?«
»Natürlich glaube ich das«, sagte sie entschieden, doch für Roger klang es wie eine wohlmeinende Lüge. »Alle meine Freunde versichern mir, dass das Kabinett einen einstimmigen Beschluss fassen muss. Wenn nur ein einziger Minister gegen die Hinrichtung ist, bist du gerettet. Und es scheint, dein ehemaliger Chef beim Foreign Office, Sir Edward Grey, ist dagegen. Gib die Hoffnung nicht auf, Roger.«
Diesmal befand sich der Sheriff des Pentonville-Gefängnisses nicht im Besucherraum. Nur ein sehr junger Wachmann, der mit demonstrativem Desinteresse durch das Türgitter auf den Korridor hinausblickte. ›Wären alle Wächter von Pentonville so diskret‹, dachte Roger, ›wäre das Leben hier um einiges erträglicher.‹ Ihm fiel ein, dass er Alice noch nicht zu den Vorfällen in Dublin befragt hatte.
»Ich habe gehört, dass Scotland Yard nach dem Osteraufstand dein Haus in Grosvenor Road durchsucht hat«, sagte er. »Arme Alice. War es sehr schlimm für dich?«
»Es geht. Sie haben alle Dokumente mitgenommen. Persönliche Briefe, Manuskripte. Ich hoffe, sie geben sie mir zurück, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihnen von irgendeinem Nutzen sind.« Sie seufzte bekümmert. »Aber im Vergleich zu dem, was sie drüben in Irland ausstehen mussten, ist das gar nichts.«
Würde die gnadenlose Unterdrückung anhalten? Roger versuchte, nicht an die Erschießungen zu denken, die Toten, die Folgen dieser tragischen Woche. Doch Alice schien ihm anzumerken, dass er mehr erfahren wollte.
»Die Hinrichtungen haben offenbar aufgehört«, murmeltesie mit einem Seitenblick auf den Wärter. »Wir schätzen, es sind etwa dreitausendfünfhundert Gefangene. Die meisten sind hierher nach England gebracht worden und auf Gefängnisse im ganzen Land verteilt worden. Wir haben achthundert Frauen unter ihnen identifiziert. Mehrere Vereinigungen helfen uns. Viele englische Anwälte haben sich angeboten, die Fälle pro bono zu übernehmen.«
Die Fragen überschlugen sich in Rogers Kopf. Wie viele Freunde unter den Toten, den Verletzten, den Gefangenen? Doch er hielt sich zurück. Wozu Dinge herausfinden, an denen er nichts ändern könnte und die ihn nur noch mehr verbittern würden?
»Soll ich dir etwas sagen, Alice? Einer der Gründe, weshalb ich auf eine Begnadigung hoffe, ist der Gedanke, dass ich sonst sterbe, ohne
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