Der Traum des Kelten
dort präsent, seit David Livingstone mit seiner Erforschung des afrikanischen Kontinents und der Verbreitung des Evangeliums begonnen hatte. Inzwischen gab es Missionen in Palabala, Banza Manteke, Ngombe Lutete, und soeben war eine weitere namens Arlhington unweit von Stanley Pool gegründet worden. Jenes Gespräch hatte einen so tiefen Eindruck auf Roger gemacht, dass er es für den Rest seines Lebens nicht vergaß und selbst in jenen Tagen der Genesung von seinem dritten Malariaanfall in allen Einzelheiten hätte wiedergeben können.
Wer Theodore Horte zuhörte, hätte sich niemals vorstellen können, dass er einmal die Offizierslaufbahn eingeschlagen und an wichtigen militärischen Operationen der britischen Marine teilgenommen hatte. Seine Vergangenheit und sein Privatleben erwähnte der Mittfünfziger mit dem distinguierten Äußeren und den tadellosen Manieren nie. An jenem stillen Abend in Matadi, unter einem ungetrübten Sternenhimmel, der sich schimmernd im Fluss spiegelte, legten Roger und Horte sich nebeneinander in zwei Hängematten, ließen sich den warmen Wind durch die Haare streichen und beschlossen den Tag mit einer jener, wie Roger zunächst glaubte, üblichen Plaudereien nach dem Abendessen, die ihren Zweck darin hatten, einen langsam schläfrig zu stimmen. Doch bereits nach kurzer Zeit ließ ihre Unterhaltung Rogers Herz schneller schlagen. Pastor Hortes warme, sanfte Stimme flößte ihm Vertrauen ein, ermutigte ihn, Dinge auszusprechen, die er seinen Arbeitskollegen – außer gelegentlich Herbert Ward – und erst recht seinen Vorgesetzten nicht anvertrauen konnte. Sorgen, Ängste, Zweifel, die er verbarg, als handelte es sich um etwas Schändliches. Zum Beispiel, ob das alles überhaupt einen Sinn ergab. Ob das afrikanische Abenteuer Europas wirklich das war, was darüber gesagt, geschrieben, geglaubt wurde? Brachten freier Handel und Evangelisierung tatsächlich Zivilisation und Fortschritt? Konnte man diese Ungeheuer der ForcePublique, die alles an sich rissen, was ihnen gefiel, als Zivilisationsstifter bezeichnen? Wie viele der an der Kolonisierung beteiligten Kaufleute, Soldaten, Beamten, Abenteurer empfanden denn auch nur einen Funken Respekt vor den Einheimischen und betrachteten sie als Brüder und Schwestern oder zumindest als menschliche Wesen? Fünf Prozent vielleicht? Einer von Hundert? Er war während seiner Jahre hier jedenfalls nicht einmal einem Dutzend Europäern begegnet, in deren Augen die Schwarzen keine seelenlosen Tiere waren, die man bedenkenlos betrügen, auspeitschen, sogar töten durfte.
Theodore Horte hörte der bitteren Anklage Rogers schweigend und ohne überrascht zu wirken zu. Und er gestand, dass ihn selbst seit Jahren schreckliche Zweifel plagten. Trotzdem spreche, zumindest in der Theorie, doch vieles für die »Zivilisation«. Seien die Lebensbedingungen der Einheimischen etwa nicht entsetzlich? Seien die mangelnde Hygiene, der allgemeine Aberglaube, die Unkenntnis elementarster gesundheitlicher Vorkehrungen nicht schuld daran, dass sie wie die Fliegen starben? Sei dieses Leben, letztlich ein bloßes Überleben, nicht tragisch? Europa könne viel dazu beitragen, dass sie diese primitive Daseinsstufe überwänden. Und bedeute es außerdem nicht etwas Gutes, den wahren Gott kennenzulernen, statt ihrer Götzen den Gott der Christen anbeten zu können, den Gott der Liebe, Gnade und Gerechtigkeit? Zugegeben, viele schlechte Menschen seien in Afrika gelandet, womöglich der Pöbel Europas. Aber könne man daran nicht etwas ändern? Es galt, die positiven Aspekte des Alten Kontinents hier geltend zu machen. Nicht die Habgier der Kaufleute mit ihren schwarzen Seelen, sondern Wissenschaft, Gesetze, Bildung, die unantastbaren Menschenrechte, die christliche Ethik. Das Geschehene lasse sich nicht mehr rückgängig machen. Also sei es auch zwecklos, sich zu fragen, ob die Kolonisierung gut oder schlecht sei, ob es den Kongolesen ohne die Europäer, auf sich selbst gestellt, besser ergangen wäre. Wenn man etwas nicht rückgängig machen könne, solle man keine Zeit damit vergeuden, sich zu fragen, ob es besser nicht geschehen wäre.Lieber solle man versuchen, es in die richtigen Bahnen zu lenken. Es bestehe immer die Möglichkeit, etwas Schiefes gerade zu biegen. War ebendas nicht die schönste Lehre Christi?
Als Roger ihn gegen Morgengrauen fragte, ob es für einen nicht besonders religiösen Menschen wie ihn möglich sei, in einer der Missionen am Unter- und
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