Der Traum des Kelten
sich zu der großen, bärtigen Gestalt Rogers um, der einen Stock in den Händen hielt, mit dem er unterwegs das Terrain sondierte und sich den Weg durch das Dickicht bahnte. Ein Hündchen wuselte zwischen seinen Beinen herum. Das erhitzte runde Gesicht des Leutnants mit seinem gestutzten Bärtchen und den blinzelnden Augen wurde vor Überraschung blass, dann lief es wieder rot an.
»Was haben Sie gesagt?«, brüllte er. Roger sah, wie der anderedie Chicotte losließ und mit der rechten Hand an seinem Revolvergürtel zu nesteln begann. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Roger, dass der Offizier wütend genug war, um auf ihn zu schießen. Er zögerte keine Sekunde, packte den Leutnant am Handgelenk, ehe der den Revolver ganz ziehen konnte, und schlug ihm die Waffe weg. Leutnant Francqui versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien. Seine Augen quollen hervor wie die eines Frosches.
Die acht Soldaten der Force Publique, die rauchend der Auspeitschung beigewohnt hatten, zeigten keine Regung, doch Roger nahm an, dass sie die Hände auf ihre Gewehre gelegt hatten und auf einen Befehl ihres Vorgesetzten warteten.
»Ich heiße Roger Casement, ich arbeite für die Sanford Exploring Expedition , und Sie kennen mich sehr gut, Leutnant Francqui, wir haben in Matadi einmal eine Partie Poker gespielt«, sagte er und ließ den Offizier los, bückte sich nach dem Revolver und gab ihn mit einer höflichen Geste zurück. »Wie Sie diesen Jungen auspeitschen, ist gesetzeswidrig, ganz egal, was er sich hat zuschulden kommen lassen. Als Offizier der Force Publique wissen Sie das besser als ich, ganz zweifellos sind Sie vertraut mit den Gesetzen des Kongo-Freistaats. Sollte dieser Junge infolge der Peitschenhiebe sterben, haben Sie ein Verbrechen auf dem Gewissen.«
»Mein Gewissen habe ich vorsorglich zu Hause gelassen, als ich in den Kongo kam«, entgegnete der Offizier. Sein Ausdruck war jetzt spöttisch, und er schien sich zu fragen, ob er es mit einem Clown oder einem Wahnsinnigen zu tun hatte. Sein Zorn hatte sich verflüchtigt. »Ein Glück, dass Sie so schnell waren, beinahe hätte ich Ihnen eine Kugel verpasst. Das hätte mich in eine schöne diplomatische Bredouille gebracht, einen Engländer umzulegen. Aber ich rate Ihnen, meinen Kollegen von der Force Publique nicht so in die Arbeit zu pfuschen. Die haben alle einen ziemlich üblen Charakter, mit denen könnte es Ihnen schlimmer ergehen als mit mir.«
Jetzt wirkte der Offizier eher niedergeschlagen. Er murmelte, jemand habe die Leute vorgewarnt. Jetzt müsse er mitleeren Händen nach Matadi zurückkehren. Er sagte nichts, als Roger seiner Truppe anordnete, den Jungen loszubinden und ihn in eine zwischen zwei Stöcken aufgespannte Hängematte zu legen, um ihn mit nach Boma zu nehmen. Als sie zwei Tage später dort eintrafen, war der Junge trotz seiner Verletzungen und des Blutverlusts noch am Leben. Roger lieferte ihn in der Krankenstation ab und begab sich ins Gericht, um Leutnant Francqui wegen Amtsmissbrauchs anzuzeigen. In den darauf folgenden Wochen wurde er zweimal für eine Zeugenaussage vorgeladen, doch die umständliche, idiotische Befragung durch den Richter deutete darauf hin, dass seine Anzeige ad acta gelegt werden würde, ohne dass der Offizier auch nur ermahnt würde.
Als das Urteil schließlich verkündet und die Anklage aus Mangel an Beweisen und wegen der Aussageverweigerung des Opfers fallengelassen wurde, hatte Roger bei der Sanford Exploring Expedition bereits gekündigt und arbeitete wieder unter Henry Morton Stanley – den die Kikongos der Region inzwischen Bula Matadi, »der die Steine bricht«, getauft hatten – an der Eisenbahnstrecke, die man parallel zur Karawanenroute anzulegen begonnen hatte. Den misshandelten Jungen behielt Roger bei sich, als Diener, Gehilfen und ständigen Begleiter auf seinen Reisen durch Afrika. Da er ihm nie seinen wirklichen Namen entlocken konnte, taufte Roger ihn Charlie. Er blieb sechzehn Jahre an Rogers Seite.
Rogers Kündigung ging auf eine Auseinandersetzung mit einem der leitenden Angestellten der Sanford Exploring Expedition zurück. Roger bedauerte sein Ausscheiden nicht, denn mit Stanley an der Eisenbahn zu arbeiten entsprach trotz aller Plackereien der ursprünglichen Vorstellung, mit der er nach Afrika gekommen war. Den Urwald zu roden und Berge zu sprengen, um die Eisenbahnschwellen und Gleise zu legen, war Pionierarbeit, wie er sie sich erträumt hatte. Stundenlang unter freiem Himmel, bei
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