Der Traum
dem leichten Hauch des Atems.
Mechanisch blickte das Kind immer noch empor und betrachtete das Haus, ein sehr altes, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erbautes schmales Haus mit nur einem Stockwerk. Es klebte an der Seite der Kathedrale zwischen zwei Strebepfeilern, wie eine Warze, die zwischen zwei Zehen einer Riesengestalt gewachsen ist. Und so angelehnt, hatte es sich erstaunlich erhalten mit seinem steinernen Unterbau, seinem mit Klinkern geschmückten Fach werk im ersten Stock, seinem Dachstuhl, dessen Gebälk einen Meter über den Giebel hinausragte, seinem vorspringenden Treppentürmchen an der linken Ecke, dessen winziges Fenster noch die Bleieinfassungen von einst hatte. Das Alter jedoch hatte Ausbesserungen erfordert. Das Ziegeldach mußte aus der Zeit Ludwigs XIV.9 stammen. Man erkannte unschwer die Arbeiten, die um jene Zeit vorgenommen worden waren: eine in die Bekrönung des Türmchens gebrochene Luke, Fensterrahmen aus Holz, die überall die Einfassungen der ursprünglichen Butzenscheiben ersetzten, die drei zusammenhängenden Fensteröffnungen im ersten Stock, aus denen man durch Vermauern der mittleren zwei gemacht hatte, was der Hausfront die Symmetrie der anderen, neueren Gebäude der Straße verlieh. Im Erdgeschoß waren die Veränderungen ebenso sichtbar, eine geschnitzte Eichentür an Stelle der eisenbeschlagenen alten Tür unter der Treppe und die große Arkade in der Mitte, bei der man den unteren Teil, die Seite und die Spitze zugemauert hatte, so daß nur noch eine rechteckige Öffnung da war, eine Art breites Fenster an Stelle der spitzbogenförmigen Fensteröffnung, die ehemals auf die Straße hinausging.
Ohne an etwas zu denken, betrachtete das Kind noch immer dieses ehrwürdige, saubergehaltene Handwerksmeisterhaus, und es las gerade die Worte, die auf einem gelben Schild, das links neben der Tür angenagelt war, in alten schwarzen Buchstaben geschrieben standen, »Hubert, Meßgewandmacher«, als das Klappen eines Fensterladens es von neuem aufhorchen ließ. Dieses Mal war es der Laden des viereckigen Fensters im Erdgeschoß: nun beugte sich ein Mann hinaus mit vergrämtem Gesicht. Adlernase, höckeriger Stirn, die von dichtem, trotz seiner kaum fünfundvierzig Jahre schon weißem Haar umkränzt war; und auch er verweilte eine Minute und betrachtete die Kleine aufmerksam, während sich eine schmerzliche Falte um seinen großen sanften Mund zog. Sodann sah sie, wie er hinter den kleinen grünlichen Fenstern stehenblieb. Er wandte sich um, er machte eine Handbewegung, seine sehr schöne Frau erschien wieder. Seite an Seite standen sie nun und rührten sich beide nicht mehr, ließen die Kleine nicht mehr aus den Augen und sahen tieftraurig aus.
Seit vierhundert Jahren bewohnte das Geschlecht der Huberts, bei denen sich das Gewerbe des Kunststickers vom Vater auf den Sohn vererbte, dieses Haus. Ein Meßgewandmachermeister hatte es unter Ludwig XI.10 bauen, ein anderer unter Ludwig XIV. ausbessern lassen; und der jetzt lebende Hubert stickte hier Meßgewänder wie alle seines Stammes. Mit zwanzig Jahren hatte er ein sechzehnjähriges Mädchen, Hubertine, mit solcher Leidenschaft geliebt, daß er sie, obgleich die Mutter, eine Beamtenwitwe, sie ihm verweigerte, entführt und dann geheiratet hatte. Sie war von wunderbarer Schönheit, das war beider ganzer Roman, beider Freude und beider Unglück. Als sie acht Monate später schwanger ans Totenbett ihrer Mutter trat, enterbte diese sie und verfluchte sie, so daß das Kind starb, das noch am selben Abend geboren wurde. Und die starrköpfige Beamtenwitwe, die nun in ihrem Sarg auf dem Friedhof lag, hatte noch immer nicht verziehen, denn das Ehepaar hatte trotz seines glühenden Wunsches kein Kind mehr bekommen. Nach vierundzwanzig Jahren beweinten sie noch immer jenes Kind, das sie verloren hatten, und gaben jetzt die Hoffnung auf, die Tote jemals zu erweichen.
Von den Blicken der beiden verwirrt, hatte die Kleine sich wieder hinter dem Pfeiler der heiligen Agnes verkrochen. Auch beunruhigte sie das Erwachen der Straße: die Läden wurden geöffnet, Leute kamen aus den Häusern. Die Rue des Orfèvres, deren Ende an die Seitenfront der Kirche stößt, wäre eine richtige Sackgasse, denn nach der Apsis hin war sie durch das Haus der Huberts verstopft, wenn nicht die Rue Soleil, ein schmaler Gang, ihr zur anderen Seite hin einen Ausgang schaffte, indem sie bis zur Hauptfassade auf dem Place du Cloître am Seitenschiff entlanglief; und es
Weitere Kostenlose Bücher