Der Traum
machte seinen Roman in allen technischen und faktischen Details unangreifbar. Hier war nichts erfunden, hier war alles überprüfbar, alles »wahr«. Aber gerade dadurch trat die »Unwahrheit« der gesamten Fiktion nur um so deutlicher zutage. Schuld daran war auch nicht die Milieuwahl an sich oder der Versuch, ekstatische religiöse Zustände zu schildern. »Die Sünde des Abbé Mouret« hatte daraus gerade ihren lyrischen Schwung geschöpft. Die Beschreibung dieses neuen Garten Eden war zu einem rauschhaften Hymnus auf die ewige Schöpferkraft der Natur, den ewigen Kreislauf von Zeugung, Geburt und Tod, von der Verstrickung des Menschen in die »Urtriebe des Fleisches« geworden. Und der Roman war viel mehr eine glühende Vision als ein »sachliches Protokoll« der Wirklichkeit. Aber er lag auch weitab von allen in der idealisierenden Literatur üblichen pseudorealistischen Darstellungen menschlicher Beziehungen.
Die Schwierigkeit des vorliegenden Romans beruhte jedoch gerade darauf, daß seine Fabel gleichsam dem »Standardklischee« der Kitschliteratur entsprach. Die damit verbundene verfälschte Vorstellung der Wirklichkeit war so elementar, daß daran auch Zolas bewußte Transponierung der Vorgänge in die illusionäre Welt von Angéliques religiösen Visionen und ihre radikale Abtrennung von der Wirklichkeit nichts, zu ändern vermochte. Die Bezugsetzung zur Wirklichkeit blieb und damit die Entstellung der Wahrheit. Das hat Zola sicher selbst gespürt. Und so hat er den Gefühlsüberschwang und die mystische Verzückung oft so übersteigert, das Zustandekommen der religiösen Wahnvorstellungen Angéliques mit so viel Sorgfalt logisch entwickelt und begründet – durch erbliche Veranlagung, Erziehung, Umgebung, Lektüre, Beruf, Pubertät –, daß man manchmal fast den Eindruck gewinnt, als ginge es ihm trotz allen guten Willens, die Illusion eines Traumes vor uns hinzuzaubern, doch viel mehr um die Demonstration ihrer illusionären Täuschung.
Eine so zwiespältige Darstellung konnte kein geschlossenes Ganzes hervorbringen.
Ein Gartenlaubenthema ließ sich, auch mit Zolas gestalterischem Können, nicht zu einem Kunstwerk umformen. Was übrigblieb, war nicht mehr als eine gekonnte naturalistische Stilübung.
Doch trotz dieser offensichtlichen Schwächen gehört dieser Roman zu den großen Verkaufserfolgen. Er hatte 1928 die gleiche Auflagenhöhe wie »Germinal« erreicht, nämlich 187000.
Soll man es dem Autor der »RougonMacquart« angesichts dieses Massentraumes von einem idealen Reich menschlicher Liebe und Güte verübeln, daß auch er einmal in die Scheinwelt der schönen Illusion entfliehen wollte?
ebook - Erstellung Februar 2010 - TUX
Ende
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