Der Traum
Gläubigkeit die ganze Legende der Jesus angelobten, kindlichen Jungfrau: wie ihre Haare länger wurden und sie umhüllten, als der Statthalter, dessen Sohn sie zurückwies, sie nackt in die verrufenen Häuser schickte; wie die Flammen des Scheiterhaufens ihren Gliedern auswichen und die Henker verbrannten, sobald sie das Holz anzündeten; die Wunder ihrer Gebeine, wie Constantia, des Kaisers Tochter, vom Aussatz geheilt wird, und die Wunder, die ihr Bildnis gewirkt, wie der Priester Paulinus, gequält vom Verlangen, ein Weib zu nehmen, auf den Rat des Papstes den mit einem Smaragd geschmückten Ring dem Bildnis hinhielt, das den Finger ausstreckte und ihn dann wieder zurückzog, den Ring behaltend, den man da noch sieht, wodurch Paulinus von aller Versuchung erlöst wurde. In der Spitze des Giebelfeldes wird Agnes im Glorienschein schließlich in den Himmel aufgenommen, wo ihr Bräutigam Jesus sich mit ihr, die ganz klein ist und so jung, vermählt, indem er ihr den Kuß ewiger Wonnen gibt.
Aber wenn der Wind durch die Straße fegte, peitschte der Schnee von vorn, weiße Packen drohten die Schwelle zu versperren; und das Kind wich nun nach den Seiten zurück, zu den Jungfrauen hin, die über dem Säulenstuhl der Leibung standen. Das waren die Gefährtinnen von Agnes, die Heiligen, die ihr Gefolge bildeten: drei zu ihrer Rechten, Dorothea3, die im Gefängnis von wunderbarem Brot ernährt wurde, Barbara4, die in einem Turme lebte, Genoveva5, deren Jungfräulichkeit Paris rettete; und drei zu ihrer Linken, Agatha6, der man die Brustwarzen abgedreht und ausgerissen hatte, Christina7, die von ihrem Vater gefoltert wurde, der ihr ihr eigenes Fleisch ins Gesicht warf, Cäcilia8, die von einem Engel geliebt wurde. Über ihnen noch mehr Jungfrauen, drei dichte Reihen von Jungfrauen stiegen mit den Bögen der Archivolten empor, schmückten die drei Bogenrundungen mit einem Blühen sieghaften und keuschen Fleisches, das hienieden gemartert, in den Folterqualen zermalmt, droben von einer Schar Cherubim empfangen wurde, beseligt vor Entzücken inmitten der himmlischen Heerscharen.
Und schon lange wurde die Kleine durch nichts mehr geschützt, als es endlich acht Uhr schlug und der Tag heraufzog. Wäre sie in den Schnee getreten, so hätte er ihr bis zu den Schultern gereicht. Das uralte Tor hinter ihr war damit überzogen, war gleichsam mit Hermelin ausgeschlagen, ganz in Weiß, und sah aus wie eine Ruhebank unten an der grauen Fassade, die so kahl und so glatt war, daß nicht eine Flocke daran hängenblieb. Die großen Heiligengestalten der Leibung vor allem waren darin eingehüllt, von ihren weißen Füßen bis zu ihrem weißen Haar, und strahlten von Reinheit. Weiter oben hoben sich die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Heiligengestalten der Bogenrundungen in scharfen Konturen ab, mit einem hellen Strich auf den dunklen Grund gezeichnet; und das bis zur höchsten Seligkeit, bis zur Vermählung der Agnes, die die Erzengel unter einem Regen weißer Rosen zu feiern schienen. Die Statue der kindlichen Jungfrau, die mit ihrem weißen Palmenzweig, mit ihrem weißen Lamm auf dem Pfeiler stand, war von weißer Reinheit, hatte einen unbefleckten schneeigen Leib in dieser starren Reglosigkeit der Kälte, die das mystische Emporschwingen der sieghaften Jungfräulichkeit um sie her zu Eis erstarren ließ. Und zu ihren Füßen die andere, das unglückselige Kind, das auch weiß von Schnee war, so starr und weiß, daß man hätte glauben können, es werde zu Stein, unterschied sich nicht mehr von den großen Jungfrauengestalten.
Ein Klappern an den schlafenden Häuserfronten, ein Fensterladen, der zurückschlug, veranlaßte indessen die Kleine hochzublicken. Es war rechts von ihr, im ersten Stock des Hauses, das an die Kathedrale grenzte. Eine sehr schöne Frau, eine kräftige Brünette von ungefähr vierzig Jahren, hatte sich soeben aus dem Fenster gebeugt; und trotz des schrecklichen Frostes ließ sie ihre nackten Arme eine Minute lang draußen, da sie gesehen hatte, wie sich das Kind bewegte. Mitleidsvolle Verwunderung machte ihr ruhiges Gesicht traurig. Dann schloß sie erschauernd wieder das Fenster. Sie bewahrte nur die flüchtige Vision eines kleinen blonden Mädchens mit Veilchenaugen und einem Stoffetzen um den Kopf; ein längliches Gesicht, ein vor allem sehr langer Hals von lilienhafter Anmut auf abfallenden Schultern, doch blau vor Kälte, die Händchen und Füßchen halb abgestorben, da war nichts Lebendiges mehr außer
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