Der Traum
hat, wie schwer es ist, glücklich zu sein auf dieser Welt«, heißt es in dem bereits erwähnten Brief an Van Santen Kolff. Aber weder Zolas gutgemeinte philosophische Interpretation noch die symbolische Überhöhung der literarischen Ausführung vermag gerade dieser Schlußszene ihre peinliche Kitschigkeit zu nehmen. Da erwiesen sich noch die anderen angewandten Mittel als wirksamer. Zola gelang es tatsächlich durch die Wahl des Milieus – dieser stille Winkel in einer kleinen Provinzstadt im Schatten der großen Kathedrale, das stille altertümliche Haus der Huberts, der verträumte Garten mit dem plätschernden Bach und der halb verfallenen Mühle und das ebenso altertümliche, zwischen Kunst und Handwerk liegende Gewerbe der Meßgewandsticker –, eine so weltferne, entrückte, fast verzauberte Atmosphäre zu schaffen, daß die ganz unwahrscheinliche Liebe zwischen dem sagenhaft reichen Bischofssohn, dem letzten Sproß der Hautecœurs, und dem armen Findelkind wie eine natürliche Ergänzung dieser Umgebung wirkt.
Die Einheitlichkeit der Atmosphäre war zweifelsohne von Anfang bis zu Ende durchgehalten und ebenso der Aufschwung ins »reine Reich der Phantasie und edlen Gefühle«. Im übrigen hatte gerade diese Situierung und die ganz unkomplizierte Entwicklung der Gefühle Zola reichlich Mühe gemacht. Denn die Wahl eines religiösen Milieus stand keineswegs von Anfang an fest. Zola zögerte im Gegenteil sehr lange, ob er seine Geschichte in den Ruinen eines alten Schlosses oder im Dämmerschein einer Kirche spielen lassen sollte. Und er entschied sich für letztere Lösung nicht nur, weil sie die Heilung bringende Rolle des Vaters bei der Letzten Ölung wahrscheinlicher machte, sondern weil die ganze Atmosphäre mystischer Verzückung sein Märchen in die Nähe der Heiligenlegende rückte und ihm eine Art literarisch tradierter Glaubwürdigkeit verlieh.
Die stoffliche Anreicherung schöpfte Zola für diese Seite seines Romans aus der »Legenda aurea«, der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Sammlung voll Heiligenleben. Er hat sie im Zuge der Vorbereitung relativ spät gelesen und ist erst durch einen Zufall auf sie gestoßen, aber sie muß, nach den umfänglichen Exzerpten in seinem Vorbereitungsdossier zu schließen, wie ein Katalysator auf ihn gewirkt haben. Hier fand er das Klima überschwenglicher Gefühlssteigerung, dessen er für die Überhöhung seiner Geschichte bedurfte.
Und damit sind wir beim letzten Punkt, der Dokumentation.
Die in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrten Manuskripte – zwei dicke Bände von 418 bzw. 311 Seiten – zeigen, daß Zola diesen Roman mit der gleichen Gewissenhaftigkeit vorbereitete wie alle übrigen. Und auch die materialmäßige Absicherung erfolgte wie immer. Zola studierte für die liturgischen und religiösen Fragen das Speziallexikon über die religiösen Zeremonien und Riten des Abbé Boissonnet aus der »Theologischen Enzyklopädie«, für die Stickkunst konsultierte er das 1887 erschienene Fachbuch von Lefébure über Stickerei und Spitzen sowie eine alte Arbeit aus dem 18. Jahrhundert von SaintAubin, »Die Kunst der Stickerei«, und ein Nachschlagewerk von Roret über die Stickereikunst, das zugleich einen Atlas mit Abbildungen enthielt. Sein Freund Céard mußte ihm außerdem die notwendigen Informationen über die Gewandstickergilde besorgen.
Céard, der Konservator am Musée Carnavalet war, wurde von Zola auch für die Beschaffung der einschlägigen Werke über Architektur herangezogen. Für die Beschreibung der, Kathedrale lieferte wahrscheinlich die Beschreibung von NotreDame in Paris von Guilhermy die wichtigsten Details, außerdem exzerpierte Zola alle einschlägigen Kapitel aus dem »Larousse du 19e siècle« über Kirchenfenster, Portale usw. Und um bei der Beschreibung des Hauses der Huberts ganz sicherzugehen, ließ er sich ebenso wie für das Warenhaus im »Paradies der Damen« von dem Baumeister Frantz Jourdain eine Skizze dieses Hauses mit einer Liste der notwendigen Fachausdrücke anfertigen.
Bei der Darstellung des Adelsgeschlechtes Hautecœur stützte er sich auf den Artikel über die Familie Coucy im »Grand Larousse«, auf das Werk von Dom Bernard de Montfaucon, »Denkmäler der französischen Monarchie«, und auf Auskünfte, die ihm sein Freund Henri Céard verschaffte.
Mit derselben Akribie wurden auch die Wappen historisch getreu zusammengestellt und die rechtliche und soziale Lage der Findelkinder geklärt.
Kurz, Zola
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