Der Treffpunkt
und ein paar Stunden schlafen. Das Wochenende wollte ich sowieso im Bett verbringen, mit Kamillentee und dem Buch „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde. Mit jeder Stunde, die verging, wurde die Angst erträglicher. Während der nächsten beiden Tage erhielt ich drei Anrufe. Der eine kam von meiner Mutter, die sich nach meinem Befinden erkundigte. Der zweite wurde von Oliver getätigt und mein bester Freund berichtete mir, dass er zusammen mit Basti nach Wien fahren würde, um den Chris tkindlmarkt zu besuchen. Bei einem Blick nach draußen sah ich den dichten Nebel und die großen Schneeflocken und war eigentlich froh, das Bett hüten zu können. Je mehr man sich einredet, man sei krank, desto schlechte geht es einem. Das hat sich an diesem Wochenende wieder mal bewahrheitet. Ich bekam Kopfschmerzen und Husten, deckte mich mit Wick Produkten und Aspirin ein. Den dritten Anruf erhielt ich am Sonntagnachmittag. Es war Frau Ofner, die fromme Religionslehrerin. Sie erzählte, dass Werners Genesung schnell voranschreite. Die Gebete seien erhört worden. Ich war neugierig, ob weitere Details an die Öffentlichkeit gelangt waren, doch die Ofner konnte mir diesbezüglich keine Auskunft geben. Im Normalfall musste sich Werner doch daran erinnern, dass er von Heaven oder einem seiner Brüder brutal misshandelt worden war. Ich konnte mir nicht erklären, warum dieser berüchtigte Raum neben dem Turnsaal noch immer ein Geheimnis war.
Am Mittwoch der darauffolgenden Woche fand in der Bundeshandelsakademie/Bundeshandelsschule Brückern die erste offizielle Weihnachtsfeier statt, organisiert und geleitet vom unumstritten beliebten Direktor Karl Vierer. Die Feierlichkeiten begannen mit einem musikalischen Auftakt in der Aula und wurden in den jeweiligen Klassenzimmern mit Büffet, Weihnachtskeksen und Getränken fortgeführt. Noch nie zuvor hatte die Schule eine richtige Feier veranstaltet. Es gab keinen Unterricht, was den Schülern besonders gefiel.
Ich war wieder gesund und einsatzfähig. Immerhin blieb mir noch ein ganzer Tag, um das D ateisystem mit allen Büchern fertig zu stellen. Die Bibliothek wurde während der Feierlichkeiten von allen Schülern tunlichst gemieden. Einzig Frau Rossbacher – ich hatte während meiner Schulzeit BWL bei ihr – und Frau Wender leisteten mir Gesellschaft. Auch Gerhard Greiner, der Schularzt, genehmigte sich ein paar Brötchen in der Bücherei. Er war ein stattlicher Mann um die 40, hatte schon ein paar graue Strähnen im kurz geschnittenen Haar und wirkte auf mich wie ein jung gebliebener Möchtegerncasanova. Er trug eine Brille und wenn er mal keinen weißen Kittel anhatte, war er meistens in Anzug und Krawatte gekleidet. Jedermann wusste, dass er schwul war. Ich hatte mich nie wirklich für ihn interessiert, weil unsere Aufgabengebiete eine direkte Zusammenarbeit so gut wie unmöglich machten. Ich wusste viel zu wenig über ihn, doch nachdem wir die erzwungenen Gesprächsthemen wie Wetter und Weihnachten hinter uns gelassen hatten, kamen wir an diesem Nachmittag auf Bücher zu sprechen. Es schien unsere gemeinsame Leidenschaft zu sein. Er schwärmte in den höchsten Tönen von Dean Koontz und David Baldacci, wobei ich deren Schwarzweißmalerei zunehmend kritisierte. Doch in den alten Jugendbüchern von Mark Twain oder Charles Dickens fanden wir eine künstlerische Ader, die wir miteinander teilten.
„Ich weiß nicht, aber ich habe die Theorie entwickelt, dass Dickens schwul war“, scherzte Ge rhard.
„Darüber will ich mehr wissen“, entgegnete ich.
„Sieh her, seine Romane drehen sich immer um Männer. Er bevorzugte schon immer junge Burschen, die heranwachsen und er liebte es, deren Probleme zu beschreiben. Oliver Twist, Pip aus Große Erwartungen oder Nicholas Nickleby. Er hat diese Knaben mit so viel Liebe zum Detail beschrieben, er hätte in sie verliebt sein können!“
„Ja, aber man findet nirgends auch nur annähernd einen Hinweis auf gleichgeschlechtliche Li ebe.“
„Das ist richtig, aber die Beziehungen zum weiblichen Geschlecht hat Dickens fast immer als sehr problematisch dargestellt. Ich denke dabei an Große Erwartungen. Es liegt doch nahe, dass er homosexuell war oder zumindest Neigungen dieser Art hatte.“
„So hab ich das noch nie gesehen. Interessante Erklärung.“
Es entstand eine kleine Pause.
„Sag mal, Gerhard, kennst du die Krankengeschichte von Werner?“
„Du meinst den Schüler, der von
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