Der Turm der Könige
das Beben war in ganz Westeuropa zu spüren, in Nordafrika und sogar auf der anderen Seite des Atlantiks. In Spanien wurden etwa fünftausend Tote gezählt. Die größten Zerstörungen trafen die Provinzen Huelva, wo über sechshundert Menschen auf ihren Schiffen starben, Cádiz und Sevilla.
In Cádiz zog sich das Wasser mehr als zwei Kilometer von der Küste zurück. Als der Gouverneur das sah, ordnete er an, die Stadttore zu schließen, eine Maßnahme, die viele Leben rettete, denn das Wasser kehrte als gewaltige Welle von fünfunddreißig Metern Höhe zurück, die zehn Tonnen schwere Steinblöcke aus den Mauern über fünfzig Meter weit mitriss und Cádiz dreimal überflutete.
Die Welle drang durch den Guadalquivir bis nach Sevilla vor, aber die neun Todesopfer in der Stadt starben bei dem eigentlichen Beben. Über dreihundert Häuser wurden vollständig zerstört, weitere fünftausend schwer beschädigt. Betroffen waren der Alcázar, die Casa de la Contratación, das Königliche Gefängnis, der Kornspeicher, die Kathedrale, die Kirchen Salvador, Santa Ana, San Julián, San Vicente, San Martín und San Isidoro sowie die Klöster Regina, San Francisco, San Antonio, San Agustín, San Alberto, San Juan de Dios, La Trinidad und das Ordenshaus der Jesuiten.
In der Kathedrale stimmte man gerade das Kyrie des Hochamts an, als das Beben begann. Die Erdstöße brachten die Glocken in der Giralda von alleine zum Schwingen, und die steinerne Brüstung, die außen am Gebäude entlanglief, stürzte auf das Gewölbe der Vierung. Die Menschen, die sich im Gotteshaus befanden, so wie Doña Julia und Mamita Lula im Roman, raunten schreiend vor Entsetzen zu den Portalen. Das Gedränge war so heftig, dass ein Kind zerquetscht wurde. Der Priester stimmte das
Te Deum
an und zog in Begleitung einiger Gläubiger zur Warenbörse (dem heutigen Indienarchiv), wo er die Messe zu Ende feierte. An dieser Stelle wurde später ein Denkmal errichtet, zum Dank dafür, dass das Beben nur wenig Schaden angerichtet hatte. Dieser »Templete del Triunfo« gab dem Platz seinen heutigen Namen.
Bereits nach einem Monat erschienen in den Druckereien Sevillas an die fünfzig Chronikblätter, die von den Ereignissen des Erdbebens erzählten. Diese Chronikblätter waren das erste Nachrichtenformat der Geschichte und berichteten über aktuelle Geschehnisse. Sie wurden nur in geringer Stückzahl verkauft, und die Blinden der Stadt lernten sie auswendig, um sie auf den Straßen vorzutragen.
Als Anekdote sei hinzugefügt, dass in der
Gaceta de Madrid
(aus der das heutige
Boletín Oficial del Estado
, das Spanische Gesetzblatt, hervorging) lediglich eine dürre Meldung über das Erdbeben erschien. Ich zitiere hier die ersten Sätze, um zu verdeutlichen, welch merkwürdige Prioritäten die Presse zur damaligen Zeit setzte:
Unsere hochwohlgeborenen Herrscher befinden sich bei bester Gesundheit im Königlichen Palast von Buen Retiro, zu welchem sie sich am Samstag, dem Ersten dieses Monats, aus S. Lorenzo del Escorial begaben. Dies geschah anlässlich eines beachtlichen Erdstoßes, welcher am selbigen Tage um zehn Uhr und zehn Minuten des Vormittags die königliche Residenz erschütterte und zwischen fünf und sechs Minuten andauerte. Glücklicherweise indes fügte er der Gesundheit Ihrer Majestäten keinen Schaden zu.
Die Druckerei der López de Haro, die im Roman beschrieben wird, gab es tatsächlich. Sie wurde 1675 von Tomás López de Haro gegründet, und im Laufe der Zeit veröffentlichten seine Erben 64 Komödien, 35 Schwänke und 47 Chronikblätter. In der Generalbibliothek der Universität von Sevilla existieren zahlreiche Originaldokumente, die belegen, dass das Unternehmen spätestens seit 1752 von der Witwe Diego López de Haro geführt wurde. Ihr unterstand die Druckerei, als eines der populärsten Chronikblätter über die Ereignisse des Erdbebens von Lissabon erschien. Es ist in Form einer Romanze verfasst und entwickelte sich mit der Zeit zu einem Talisman. Die Leute trugen es in der Jackentasche über dem Herzen und legten es sogar unters Bett in der Überzeugung, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn sie es bei sich trugen. Wie man weiß, war es zu jener Zeit üblich, dass sich die Witwen der Drucker aktiv um die Geschäfte kümmerten. Der Fall der Witwe Diego López de Haro war nicht außergewöhnlich. Es war auch durchaus üblich, dass man den Meister der Werkstatt heiratete.
Das Druckwesen hatte sich zu einem der einträglichsten
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