Der Turm der Könige
gewesen war und nichts, was konkrete Konsequenzen nach sich zog. Sie spürte eine gewisse Feindseligkeit und begriff, dass dieser Mann mit den dunklen Augen genauso zum Sieg entschlossen war wie sie. Sie atmete tief durch und zog dann mit dem Bauern, der vor ihrem König stand, zwei Felder nach vorne.
Ihr Gegner tat es ihr nach, rückte jedoch nur um ein Feld vor.
Die Bauern standen einander gegenüber, so wie sie einander gegenübersaßen. Guiomar sah auf und blickte in seine unergründlichen Augen. Dann zog sie erneut einen Bauern. Er tat es ihr gleich, worauf sie einen ihrer weißen Springer ins Spiel brachte, und da sah sie den Elefanten aus Ebenholz in einer eleganten Diagonale über das Spielfeld vorrücken. Ein Schweißtropfen rann ihr den Rücken hinab. Es war totenstill.
Guiomars Blick war fest auf das Schachbrett gerichtet, während sie im Geiste die Züge ihres Gegners analysierte, um den kleinsten Fehler zu nutzen. Sie wusste, dass er dasselbe tat. Ihr kamen die Ratschläge in den Sinn, die Monsieur Verdoux ihr in all den Jahren erteilt hatte. Ihr Lehrer, diese undurchsichtige Gestalt, den sie nicht hassen und dem sie ebenso wenig verzeihen konnte, hatte ihr den Willen zum Sieg eingeimpft. Siegen! Siegen um jeden Preis … Verlieren war unehrenhaft und ein Zeichen von Schwäche. Schach war wie das Leben! Ein Schauder durchlief sie. Kriege, Kämpfe, Schlachten … Menschen, die wie Bauern von erbarmungslosen Königen geopfert wurden, die sie aus reiner Habgier oder Machtstreben dem Tod anheimgaben.
Und genau in diesem Moment, als sie ein Schwindelgefühl ergriff, machte ihr Gegenspieler einen Fehler. Guiomar war überrascht. Ihren weißen Springer mit der Dame zu schlagen, wäre ein wesentlich besserer Zug gewesen. Auch ihr Gegner schien es zu bemerken, aber es war zu spät. Sie sah ihm in die Augen und nahm eine Spur von Nervosität darin wahr.
Guiomar atmete tief durch. Bevor sie den nächsten Zug ausführte, dachte sie an ihren Vater. Was hätte Abel de Montenegro an ihrer Stelle getan? Sie wusste es nicht. Doch plötzlich verstand sie, dass die Antwort in ihr selbst lag, tief verborgen in ihrem Herzen. Sie hatte es in der Hand, die Partie zu gewinnen. Ihren Gegner zu besiegen, ihn zu vernichten, einen Pakt zu beenden, den zwei Männer vor Jahrhunderten geschlossen hatten, die dasselbe Land liebten, denselben Turm. Zwei Völker, die dazu verdammt schienen, sich auf ewig zu bekriegen. Und da fasste sie ihren Entschluss: Sie würde weder gewinnen, noch verlieren. Die Giralda sollte für immer beides sein: ehemals Minarett einer Moschee, von dem aus der Muezzin die Gläubigen zum Gebet rief. Ein Minarett, das in der Renaissance überbaut wurde, um einer herrlichen Kathedrale zur Seite zu stehen und die Glocken aufzunehmen, mit denen der Priester die Christen zur Messe rief. Zwei Architekturen unterschiedlichen Ursprungs, die sich auf perfekte Weise in einem Turm verbanden, der seit über sechshundert Jahren einer einzigen Aufgabe diente: die Gläubigen zusammenzurufen, auf dass sie Gott lobten. In einer Welt, regiert von Königen, Rittern und Bischöfen, würde sie, ein einfacher Bauer, die Partie entscheiden. Wie die Könige das aufnehmen würden, war nicht ihre Sache.
***
ZWEI STUNDEN SPÄTER BLICKTE ihr Gegner mit seinen dunklen Augen vom Brett auf. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Bestürzung ab. Alles lief auf ein Ewiges Schach hinaus, und beide wussten es.
Dg4+
»
Salaam aleikum
«, sagte er. »Friede sei mit dir.«
»
Aleikum as-salaam
«, antwortete sie. »Friede sei auch mit dir.«
Unmittelbar darauf erhob sich der muslimische Spieler und ging hinaus. Vertreter beider Seiten betraten den Raum, um schriftlich festzuhalten, was geschehen war, und weitere Verwirrung zu vermeiden.
Guiomar blieb ganz ruhig und sagte kein Wort. Sie wusste um die Bedeutung dessen, was sie getan hatte.
Epilog
G uiomar hängte das Schild mit der Aufschrift »Hier werden Bücher gedruckt« wieder vor die Tür. Irgendwann während der Reise hatte sie überlegt, alles zu verkaufen, die schlechten Erinnerungen hinter sich zu lassen und sich auf die Suche nach Ventura zu machen.
Als sie nach Hause gekommen war, war dieses in einem ebenso beklagenswerten Zustand wie sie selbst. Die Gassenjungen der Stadt hatten ihre Abwesenheit genutzt, um die Schaufensterscheiben und die Fenster im ersten Stock einzuwerfen. Die Fassade erinnerte an ein zahnloses Gesicht, das sie traurig ansah. Die Vorhänge wehten träge im
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