Der Turm der Könige
ursprünglichen Platz anzubringen, dabei mehr vom Gefühl geleitet als von den Türangeln, die im Laufe der Jahrhunderte versetzt worden zu sein schienen. Als sie schließlich fertig waren, ächzten die über zehn Ellen hohen Bronzeplatten erleichtert auf, als kehrten sie von einer langen Reise zurück.
Der Bischof im Festtagsornat trat hinzu und schwenkte, leise vor sich hinmurmelnd, das Weihrauchfass vor dem Tor hin und her, während die Musikkapelle einen Prozessionsmarsch spielte. Genau in diesem Moment blitzte die Sonne in dem frisch polierten Portal auf, und die Leute mussten wegschauen, um nicht geblendet zu werden. Diejenigen, die weiter hinten standen, behaupteten, es sei aus purem Gold, und drängten näher, um es zu berühren. Es bildete sich eine Schlange von der Calle Albaicería bis zur Plaza de San Francisco, die sich erst nach Stunden auflöste.
Das Kapitel wartete geduldig, bis die Neugier der Menschen befriedigt war und der Aufruhr sich legte. Erst dann traten die christliche und die marokkanische Abordnung in den Orangenhof, jenen Ort, der über die Jahrhunderte hinweg Gebete in arabischer und später in spanischer Sprache gehört hatte, den ältesten Bereich der gesamten Kathedrale. Dort unterzeichneten sie unter dem stolzen Blick der Giralda das Dokument, in dem festgehalten wurde, dass der vor Jahrhunderten begonnene Wettstreit remis geendet sei.
Die Herrscher beider Länder, so hieß es darin, erkannten die doppelte Geschichte des Turms sowie ihre gemeinsamen Wurzeln an. Um ihre Beziehung zu besiegeln, habe man das ursprüngliche Tor in die Puerta del Perdón eingesetzt, von der aus die Giralda zu sehen sei. Ihrer beider Giralda.
Die Bevölkerung war bei diesem letzten Akt nicht zugegen. Sie erfuhr nicht einmal davon. Man hielt es nicht für nötig, sie darüber in Kenntnis zu setzen. Nach der Unterzeichnung wurde das Dokument in die Archive der Kolumbusbibliothek gebracht. Und dort blieb es.
***
GUIOMAR VERFOLGTE die Verbrüderungszeremonie vom Dach der Druckerei aus. Die Abendsonne schien auf ihr Gesicht, während die Männer das Schriftstück unterzeichneten und damit einen Schlusspunkt unter den Jahrhunderte währenden Streit setzten. Alle schienen glücklich zu sein, doch sie fragte sich, wie lange dieser Frieden währen würde.
Die Erinnerung daran, dass sie etwas Großes vollbracht hatte, würde Guiomar Kraft geben, da war sie sich sicher, auch wenn sie hin und wieder ängstlich oder traurig oder einsam sein mochte. Unterdessen beschloss sie, auf Ventura zu warten, überzeugt, dass sich die Wogen irgendwann glätten würden. Er würde einen Weg finden, zu ihr zu kommen, das wusste sie.
Und sie beschloss, dass sie gemeinsam ihr eigenes Buch schreiben würden, vielleicht eine Fortsetzung jenes Buchs ohne Namen, das sie auf dem Dachboden aufbewahrte und das mit der Schilderung eines Erdbebens begann. Eines Erdbebens, das sich am 1. November des Jahres 1755 ereignet hatte. Dem Tag, an dem sich das Schicksal der Montenegros entschied.
Nachwort der Autorin
I m Folgenden möchte ich auf einige Details der Handlung eingehen, die vielleicht so klingen, als wären sie der Phantasie entsprungen, die aber vollständig der Wahrheit entsprechen. Andererseits möchte ich auf schöpferische Freiheiten hinweisen, die ich mir bei den historischen Tatsachen genommen habe.
Das Erdbeben, mit dem der Roman beginnt, ist unter dem Namen »Das große Erdbeben von Lissabon« in die Geschichte eingegangen, weil es in dieser Stadt die größten Schäden verursachte. Obwohl es nur wenige Minuten andauerte, hatte es verheerende Folgen: Bei einer geschätzten Bevölkerung von 235 000 Einwohnern waren über 50 000 Tote zu beklagen. Das Erdbeben selbst zerstörte bereits den größten Teil der Gebäude und verursachte darüber hinaus einen Brand, der die Stadt dem Erdboden gleichmachte. Da sich das Epizentrum im Atlantik, etwa 200 Kilometer südwestlich des Cabo de San Vicente am Azoren-Gibraltar-Rücken, befand, kam es zudem zu einem furchtbaren Seebeben, das die portugiesische Küste, den Golf von Cádiz und Nordafrika traf. Die Richterskala zur Klassifizierung der Erdbebenstärke gab es damals noch nicht, doch spätere Studien kamen zu dem Schluss, dass das Beben eine Magnitude von neun hatte und somit in die Kategorie der Starkbeben gehörte, die alles in der näheren Umgebung zerstörten, ganz ähnlich dem Tsunami, der 2004 im Indischen Ozean wütete.
Lissabon war zwar am schlimmsten betroffen, doch
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