Der Turm der Könige
neue Welt in See stach. Dort würde sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.
Nach dem Abendessen setzten sich Mamita Lula und Julia in den hinteren Patio, um zu plaudern, bis sie müde wurden. Hin und wieder baten sie León, ihnen Gesellschaft zu leisten. Dann saß er entspannt da und erzählte von asiatischen Häfen, die nach Curry und Stockfisch rochen. Er berichtete ihnen von einem merkwürdigen afrikanischen Stamm, deren Männer größer seien als der Mond, und von anderen, die kaum zwei Handbreit vom Boden aufragten. Wieder andere seien im Besitz einer magischen Formel, um die Köpfe ihrer Feinde auf die Größe und das Aussehen einer gerösteten Kastanie schrumpfen zu lassen. Manchmal erzählte er ihnen mit verkniffenem Mund die Geschichte, wie die Türken ihn mit knapp fünfzehn Jahren entführt hatten, um ihn zu einem Soldaten des Sultans zu machen; wie er lange Zeit vorgab, sich in sein Schicksal als schnurrbärtiger Krummsäbelträger ergeben zu haben, und wie ähnlich die Janitscharen den christlichen Orden der Mönchsritter seien.
»Die arabische Übersetzung meines Namens lautet Asad.«
»Asad? Spreche ich das richtig aus?«, fragte Julia.
»Perfekt. Tatsächlich habe ich viele Jahre so geheißen … bis ich schließlich fliehen konnte.«
Mamita Lula lauschte Leóns Abenteuergeschichten mit klopfendem Herzen und glaubte ihm jedes Wort, so abwegig es auch klingen mochte. Sie hatte diesen Jungen gern. Sie erkannte die Ausgestoßenen der Gesellschaft sofort, weil sie selbst zu ihnen gehörte. Sie wusste, dass die meisten Menschen Kleingeister waren, die sich in Gegenwart der wenigen besonderen Menschen, die es auf diesem Planeten gab, unwohl fühlten.
Julia hingegen war davon überzeugt, dass die Geschichten, die León erzählte, reine Erfindung waren, was für sie indes nicht die geringste Bedeutung hatte. Die Welt aus Übersee, die in dem Mund dieses jungen Mannes Gestalt annahm, unterhielt sie, ob sie nun echt war oder erfunden. Ihre eigene Welt erschien ihr so leer, dass die Phantasie ihre einzige Flucht war.
Eine Minute, bevor die Kathedrale zu schwanken begann, spürte Mamita Lula die Erdbewegung in der Magengegend. Gerade wurde das Kyrie gesungen, und ein harmonischer Klangkörper aus Stimmen und Orgelrauschen bat den Herrn um Gnade, als die schwarze Dienerin Julia am Handgelenk packte und sie unter den Altar zog. Sie warf sich neben sie und legte schützend ihren Arm um sie, während sie ungeachtet der verdutzten Gesichter der übrigen Gläubigen eine unverständliche Litanei murmelte. Die Kirchenbesucher hatten keine Zeit, sich noch länger über das unangemessene Verhalten der Dienerin zu wundern, denn ein Zittern, das von Westen kam, erfasste das Gebäude, bis schließlich unter ohrenbetäubendem Knirschen die Mauern unter dem Beben nachgaben und zusammenbrachen.
Das Unheil nahm Punkt zehn Uhr morgens seinen Lauf. Die Glocken der Giralda begannen, von allein und wie von Sinnen zu läuten. Die Kirchenbänke bebten unter den Gläubigen, die saßen, und jene, die standen, fielen fassungslos um, weil sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatten. Die Kanzel drohte von ihrer Säule zu stürzen, und ein paar verängstigte Messdiener liefen schwankend auf Pater Zacarías zu, um ihm die Treppe hinunterzuhelfen.
»Die Apokalypse! Die Apokalypse!«, rief dieser, während er nach dem Kreuz tastete, das auf dem Hauptaltar stand. Nun tanzte es auf seinem Sockel und stürzte dann direkt neben den Köpfen von Mamita Lula und Doña Julia zu Boden.
Jemand hob es auf und reichte es dem blinden Priester. Er klammerte sich daran fest und schien augenblicklich ruhig zu werden.
Die steinerne Balustrade, die außen an dem Gebäude entlanglief, stürzte auf das Gewölbe der Vierung, und ein Schuttregen ging auf den Kirchenboden nieder. Die Luft füllte sich mit Staub und hüllte alles in dichte Schwaden, so dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah. Die Menschen in der Kirche drängten nach draußen, für den Fall, dass Pater Zacarías recht haben sollte und dies der Beginn der Apokalypse war. Sie wollten nicht unter einer Steinschicht zermalmt werden. Die Menschen draußen hingegen drängten nach drinnen, überzeugt, dass der Herr in der Kathedrale seine schützende Hand über sie halten werde. Die Türen waren verstopft von einer verängstigten Menschenmenge. Einige schrien, andere schluchzten, wieder andere klammerten sich aneinander oder beteten …
Es dauerte an die fünf Minuten,
Weitere Kostenlose Bücher