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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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getan hatte. Wie benommen kam sie schließlich unten an.
    Über eine Minute blieb sie vor Leóns Schlafkammer stehen. Ängstlich und aufgeregt lehnte sie den Kopf gegen das Holz und legte die Hand auf die Klinke, bis sie merkte, dass diese nachgab, ohne dass sie sie nach unten gedrückt hatte. León hatte Geräusche gehört und öffnete, eine Kerze in der Hand, die Tür vollständig. Das goldene Licht fiel auf ihr Gesicht und verlieh ihr das unwirkliche Aussehen eines Fabelwesens. Der junge Mann sah sie überrascht an.
    »Braucht Ihr etwas, Herrin?«
    Julia schloss die Augen und legte sanft den Zeigefinger auf Leóns Lippen. Sie wollte nur, dass er aufhörte zu reden, aber die Berührung seiner warmen Lippen verursachte ihr ein Kribbeln im Bauch, eine wohlige Angst, die sie leise aufseufzen ließ. Schweigend schob sie ihn zurück, um die einfache, fensterlose Lehrlingskammer zu betreten, und schloss die Tür hinter sich, während sie ihn durch ihre geschwungenen Wimpern anblickte. Ihr Mund war leicht geöffnet, sie atmete schwer. Julia war nicht mehr sie selbst. Ein unbekanntes Funkeln verlieh ihr ein so verstörendes Leuchten, dass León die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Unbewegt sahen sie einander an, ohne eine Regung, ohne eine Frage, denn die sanften Bewegungen, mit denen sie sich einander näherten, waren Antwort genug. Sie begann, ihr Hemd aufzuknöpfen, und schon die Berührung des Stoffes, der an ihr hinabglitt, brachte ihr Innerstes in Aufruhr. Jede Pore ihres Körpers war hellwach, dürstete nach Zärtlichkeit, hungerte nach warmem, feuchtem Fleisch.
    Sie war nun nackt, stand mit rosiger, bebender Haut im Kerzenschein, dem Blick dieses schönen Unbekannten hingegeben, der ihre Seele mit Feuer erfüllte. Sie fasste Leóns Kinn mit der rechten Hand und näherte sich seinem Mund, als wollte sie versuchen, den letzten Schluck aus einem Glas zu trinken. Es war nicht genügend Luft im Zimmer, und sie war überzeugt, dass sie die Luft brauchte, die Leóns Lungen füllte, um weiterleben zu können. Sie standen ganz nah beieinander, die Lippen fast vereint, während sie den arabischen Namen des jungen Mannes flüsterte.
    »Asad …«
    »So hat mich lange niemand mehr genannt«, antwortete er keuchend.
    »Ich lebe«, sagte Julia leidenschaftlich. »Ich lebe!«
    Da verschwand die Anspannung von Leóns Gesicht und ein strahlendes Lächeln ließ seine weißen Zähne zwischen den roten Lippen aufblitzen.
    »Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel.«
    Es war das Letzte, was er sagte, bevor er sie in die Arme nahm und küsste.

2 Der Krak des Chevaliers
    … eine Welt, in der du dich bewegtest wie ein Springer in einem Schachspiel, der sich wie ein Turm bewegen würde, der sich wie ein Läufer bewegen würde.
    JULIO CORTÁZAR ,
Rayuela
    D as Erdbeben ging als »Das Beben von Lissabon« in die Geschichte ein. Denn dort zählte man zwischen sechzig- und hunderttausend Toten, und die meisten Gebäude des Stadtkerns wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Erschütterung war auf der ganzen Iberischen Halbinsel zu spüren, am stärksten jedoch im mittleren Süden.
    In Cádiz war es das Meer, von dem das Unheil nahte. Es zog sich mehr als eine halbe Meile von der Küste zurück, bis der Meeresgrund offen lag, sanft und still wie ein Teppich aus braunem Samt. Andächtig schweigend beobachteten die Leute, wie sich das Wasser zurückzog, wie versteinert und zu keiner Reaktion fähig. Der Gouverneur ahnte, dass das Meer früher oder später mit neuer Kraft zurückkehren müsse, und befahl, die Stadtmauern zu schließen. Eine halbe Stunde später überfluteten drei gewaltige Wellen die Stadt. Fische wurden auf die höchsten Dächer gespült, Wagen und aufgedunsene Pferdekadaver lagen am Strand, über sechshundert Personen, die mit ihren Schiffen draußen waren, verschwanden spurlos. Zitternd und bebend versuchte die Stadtmauer, dem Druck standzuhalten, aber am Ende stürzte sie ein, als bestünde sie aus Zuckerwürfeln. Noch Tage später fand man die schweren Steine meilenweit entfernt.
    Die Wellen waren so heftig, dass sie in die Mündung des Betis – so der alte Name für den Guadalquivir – drückten und den Fluss hinaufliefen, und noch Tage später war die Luft in Sevilla, die normalerweise nach Orangenblüten und Nelken duftete, von Salz und Entsetzen geschwängert. Über dreihundert Häuser lagen in Trümmern, und weitere fünftausend, so schätzte man, würden dringender Reparaturen bedürfen.
    Auf das große Beben

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