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Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Titel: Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Till
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eins
    Deutsch. Ausgerechnet Deutsch hatte ich mir als viertes Prüfungsfach ausgesucht. Was heißt ausgesucht? Sie ließen mir die Wahl zwischen Deutsch und Chemie, also kann von Aussuchen wohl kaum die Rede sein. Deutsch, mündlich. Davon hingen nun also mein Schicksal, meine Zukunft, meine planmäßige Eingliederung in die Gesellschaft ab. Die Gesellschaft! Wer war das überhaupt?
    Zurzeit befand ich mich jedenfalls in Gesellschaft von drei Fastabiturienten, denen ebenfalls nur noch Deutsch, mündlich, zum ruhmreichen Abschluss ihrer Schülerkarriere fehlte. Wir saßen an einem Tisch in der Aula unserer Schule und meine Mitprüflinge waren eifrig damit beschäftigt, sich letzte Notizen zu machen oder schnell noch mal irgendein verdammtes Buch durchzublättern. Als ob das noch was bringen würde. Der ganze Raum roch nach Angst und war erfüllt vom Geräusch umschlagender Seiten, kritzelnder Kugelschreiber und panischem Geflüster. Am Nebentisch saß Mathe, mündlich, und brabbelte Formeln und Gleichungen. Hinter mir fragte Geschichte, mündlich, nach dem Tag der Kapitulation, und zwei Tische weiter hörte ich einen Englisch, mündlich, Hamlet mit hessischem Akzent rezitieren. Gott, wie mir diese Jammerlappen zuwider waren! 9 5 Prozent von ihnen hatten das Abi schon fest in der Tasche. Es ging nur noch um ihren verdammten Durchschnitt. Blödsinn, Durchschnitt. Ob sie nun mit 3,3 oder 2, 9 Durchschnitt ihr BWL-Studium beginnen würden, war so was von egal. An der Uni fingen sie doch wieder alle bei null an, nur um danach mit irgendeinem blöden Diplom in irgendeiner bescheuerten Firma abermals bei null anzufangen. Gott, wie ich diese ewigen Nullen hasste!
    In regelmäßigen Abständen von etwa zwanzig Minuten strömten teils strahlende, teils lange Gesichter in die Aula und jauchzten oder brummelten die Resultate ihrer gerade abgelegten letzten Reifeprüfung den Wartenden zu. Die interessierten sich allerdings einen Scheißdreck für die Ergebnisse ihrer Kameraden. Wichtig waren nur die Prüfungsfragen, die ihnen selbst noch bevorstanden. In der Hoffnung, jedwede Information, sei sie auch noch so unbedeutend, aus erster Hand zu ergattern, scharte sich um jeden Neuankömmling eine Traube quälenden Angstschweißes. Sagte ich um jeden Neuankömmling? Ich muss mich korrigieren.
    Ein Mädchen aus meinem Deutschkurs, Angela oder Angelika oder so ähnlich, kam gerade von ihrer Prüfung zurück. Niemand fragte sie etwas. Niemand nahm überhaupt Notiz von ihr. Das ging schon drei Jahre so, seit sie an der Schule war. Sie war so unscheinbar, dass man übers Wochenende vergessen hatte, wie sie aussah. Nach den großen Ferien fragten sogar manche, wer denn die Neue sei. Es war nicht so, dass die anderen sie nicht leiden konnten oder so. Nein, sie bemerkten sie nur einfach nicht. Manchmal dachte ich, sie wäre besser dran, wenn sie potthässlich wäre, mit einem Buckel und nur einem Bein. Dann wäre sie jedem aufgefallen und niemand würde jemals wieder vergessen, wie sie ausgesehen hat. »Angela?«, würden sie in hundert Jahren noch sagen. »Das war doch dieses Monster mit dem Buckel und dem einen Bein!«, und dann würde es ihnen eiskalt den Rücken herunterlaufen. Besser, als in Vergessenheit zu geraten.
    Jedenfalls winkte ich dieses Mädchen zu mir herüber und fragte es nach seiner Note. Gott, wie sie sich freute angesprochen zu werden! Sie strahlte über ihr ganzes unscheinbares Gesicht.
    »Dreizehn Punkte«, sagte sie, ohne dabei stolz oder eingebildet zu klingen.
    Es war normal für sie, nichts Besonderes. Die Unscheinbaren waren immer gut in der Schule. Was hätten sie auch sonst mit sich anfangen sollen?
    »Sonnenschein!«
    Jemand rief meinen beschissenen Namen.
    »David Sonnenschein, bitte zur Prüfung in Rau m 102.«
    Ich stand auf.
    »Viel Glück!«, sagte das unscheinbare Mädchen und ich lächelte es dafür an.
    Manchen Menschen macht man wirklich eine Freude, wenn man sie einfach nur anlächelt.
    »Ja. Viel Glück, Sunshine!«, sagte jemand hinter mir und klopfte mir auf die Schulter.
    Immer mussten sie einem auf die Schulter klopfen und blöde Spitznamen geben. Sunshine. Wie einfallsreich. Diesen Spitznamen hatte ich jetzt schon seit zwei Jahren. Irgendein Trottel in Englisch/Leistung war auf die glorreiche Idee gekommen, mich so zu nennen. Er ist dann drei Tage lang hinter mir hergelaufen und hat so lange Sunshine gebrüllt, bis es sich alle angewöhnt hatten. Ich hätte ihm gleich eine reinschlagen sollen,

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