Der Turm der Könige
DOÑA JULIAS Geschäft waren schon aus der Ferne zu erkennen. Das von zwei Ketten gehaltene Holzschild, auf dem zwei Stunden zuvor noch zu lesen stand: »Druckerei de Haro«, war heruntergefallen. Die Buntglasscheiben zur Straße hin waren größtenteils zerbrochen. Der Gehsteig und das Innere der Werkstatt waren mit Papier übersät, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefegt. Die beweglichen Lettern waren aus den Setzkästen gefallen und ergossen sich auf dem Boden, wo sie an zerquetschte Insekten aus Metall erinnerten. Die neue Druckerpresse, mit der Julia ihr Geschäft modernisieren wollte, schien beschädigt, und ein besorgniserregender Riss zog sich quer über die Wand des Patios. Trotzdem verlor die Witwe de Haro nicht ihren Ausdruck entrückter Gelassenheit.
»Gott sei Dank!«, seufzte Cristóbal Zapata auf, als er sie, an Mamita Lulas Schulter gelehnt, hereinkommen sah.
Er schob die Dienerin achtlos beiseite und fasste Julia am Arm, um sie zu einem Sessel zu führen. Der Werkstattmeister redete beruhigend auf sie ein, als sei sie ein Kind, das seine ersten Schritte macht. Er nahm ihr den runden Stein ab, den sie unterm Arm trug, brachte ihn in eine Ecke des Patios und half ihr dann, Platz zu nehmen. Nachdem er sie in Sicherheit wusste, trug er den Dienstmägden auf, einen Orangenblütentee zu bringen, und zwar rasch. Er hielt die Teetasse, während sie mit kleinen Schlucken trank, und legte ihr die Hand auf die Stirn, um sich zu vergewissern, dass der Schreck kein Fieber hervorgerufen hatte – er war fest davon überzeugt, dass diese geologische Erschütterung zwangsläufig die Stabilität und Ausgeglichenheit einer so zarten und empfindsamen Person angegriffen haben musste.
»Sie müssen sich ausruhen«, erklärte der Meister energisch.
Als Julia reglos sitzenblieb, mit abwesendem Gesichtsausdruck wie die Insassen des Hospitals San Cosme y San Damián und ohne ein Wort zu sagen, war schließlich auch Mamita Lula davon überzeugt, dass es wohl das Beste war, wenn sie sich hinlegte, während sie versuchten, ein wenig Ordnung im Haus zu schaffen.
Gegen zwei Uhr nachts wachte Julia vom Pochen ihres Herzens auf. Sie öffnete die Augen, ohne zu wissen, wo sie sich befand und wie spät es war. Ihr kam entfernt die Erinnerung an ein Erdbeben in den Sinn, aber es dauerte, bis sie wieder wusste, ob es Wirklichkeit war oder ob sie geträumt hatte. Als sich die Wolken der Verwirrung lichteten und ihr klar wurde, dass es tatsächlich ein Erdbeben gegeben hatte, packte sie die Angst. Sie begann darüber nachzudenken, was wäre, wenn sie an diesem Morgen gestorben wäre. Wo befände sich ihre Seele jetzt? Würde jemand um sie weinen? Zweiunddreißig Lebensjahre waren wie im Flug vergangen, und sie hatte nichts erreicht, auf das sie wirklich stolz sein konnte. War sie glücklich? Hatte ihr Dasein jemanden glücklich gemacht? Nicht einmal ihre Ehe war eine Liebesheirat gewesen. Ihre Mutter hatte einen alten, fetten Ehemann für sie ausgesucht, den sie nicht lieben konnte, einen Mann, der sie niemals nackt gesehen hatte, der sie niemals auf den Mund geküsst hatte … Ein Mann, dem sie keine Kinder schenken konnte. Sie verdorrte vor lauter Langeweile in diesen vier Wänden, wo Geschichten gedruckt wurden, die andere zum Träumen brachten, sie aber nicht.
Sie setzte sich im Bett auf, um nicht länger nachdenken zu müssen. Sie schwang die nackten Füße auf den Boden, und der kalte Marmor ließ sie schaudern. Barfuß tappte sie zur Tür und trat in den Flur hinaus, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Ihr Haar war gelöst und floss in weichen Wellen bis über die Taille. Sie ging den Flur entlang und die Treppe hinunter. Als sie in den Patio kam, war sie überrascht, unter den Arkaden sämtliche Gerätschaften aus der Druckerei stehen zu sehen: die Maschinen, die weißen und die bedruckten Bögen, die Tintenbottiche, den Setzkasten … Sie vermutete, dass man sie dorthin gebracht hatte, um Diebstähle zu verhindern, bis die Scheiben zur Straße repariert waren, denn das Wohnhaus war durch ein eisernes Gitter geschützt, das die Vorhalle vom Patio trennte. Sie ging zwischen den Gerätschaften hindurch zu dem Riss, den das Erdbeben in der Mauer ihres Hauses hinterlassen hatte, und fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Dann sah sie nach rechts: Dort befand sich die Treppe, die in den Keller hinabführte. Eine unerklärliche Kraft trieb sie darauf zu. Sie merkte erst, dass sie hinunterging, als sie schon die ersten Schritte
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