Der Turm
Gelblichgrüne blassenden Dieffenbachia und die Rahmen der Porträt-Fotografien mit Widmung –, und Christian fragte sich manchmal, wenn er, etwa beim Kohlenschleppen, eine der Stenzels ein Bild abstauben sah, ob sie sich wohl auch für die Darstellung im Inneren des Rahmens interessierte, oder ob es ihr gar nicht darum ging, abzustauben, den Rahmen zu betrachten, sondern für eine Zeitlang in Erinnerungen zu tauchen, für die sie allein sein wollte, eine Stunde getrennt von ihren Schwestern. Christian hatte sich bei Malthakus erkundigt, der nicht nur Briefmarken und Ansichtskarten sammelte, sondern auch Geschichten über die Häuser hier oben und ihre Bewohner: Die Karavelle habe der gebürtigen Dresdnerin Sophia Tromann-Alvarez gehört; ihr Mann, Louis Alvarez, habe in Hamburg bei der Afrikanischen Frucht-Compagnie gearbeitet, die der Reederei Laeisz assoziiert gewesen sei, und habe in Kamerun Bananenplantagen aufgebaut, sich allerdings später im Kolonialhandel selbständig gemacht; nach seinem frühen Tod in Afrika, auf einer Expedition mit dem schwedischen Entomologen Aurivillius, sei Sophia Tromann-Alvarez an ihren Geburtsort zurückgekehrt, habe die Karavelle erworben und die Jahre ihres Witwentums im Andenken an ihren Mann und die Zeit bei der Afrikanischen Frucht-Compagnie zugebracht; er könne sich gut an die hochgewachsene Frau erinnern, die fremdfarbige, aus Blumenstoffen exotisch geschneiderte Kleider trug und mit einem Parapluie, ihre drei Buschhunde an langer Leine, spazierengegangen sei, wobei sie den Stock vernehmlich auf die Straße gestoßenhabe und die Hunde jeden Vorüberkommenden mit gebleckten Zähnen angeknurrt hätten. Es gab einen Schmetterling in den Schaukästen von Louis Alvarez, den Christian besonders gern betrachtete: »Urania ripheus« stand in römischem Majuskeldruck unter dem Tier, und wie freute er sich, wenn Meno dabei war und »Laß uns ein wenig sehen üben« sagte. Das hieß, es würde etwas von ihm verlangt werden, aber es war nicht das, worüber er sich freute, denn eine Beobachtung zu beschreiben bedeutete Meno gegenüber oft, eine Frage zu beantworten, die nicht gestellt, aber durch eine Handbewegung und gewisse Gesten: Brauenheben, Unterlippevorschieben, verständlich genug angedeutet worden war, und manchmal, so wie jetzt, da er im unangenehm warmen Krankenbett darüber nachdachte, wunderte sich Christian, weshalb er nicht unmutig wurde bei diesen Forderungen Menos, warum er Meno nicht böse war, wenn der ihm freundlich, aber unnachgiebig zu verstehen gab, daß er schlecht beobachtete und seine Eindrücke nicht präzise genug in Worte faßte. Unmut konnte in der Schule aufkommen und dort auch in Fächern, die ihn nicht reizten: oft ärgerte er sich über die nachsichtige Arroganz, die Baumann seinen zugegebenermaßen miserablen Leistungen im Fach Mathematik entgegenbrachte; er konnte gegenüber Klassenkameraden aufkommen wie neulich, als Swetlana Lehmann ihm einen Rechtschreibfehler unter die Nase gerieben hatte. Bei Meno sonderbarerweise nicht – wenn Meno ihn kritisierte, war ihm das Ansporn, die Kritik wettzumachen, er zog sich dann nicht schmollend in eine Ecke zurück oder hegte finstere Gedanken wie gegen Swetlana, die allerdings auch darauf geachtet hatte, daß möglichst viele hörten, welchen Fauxpas sich der ach so selbstsichere Christian Hoffmann geleistet hatte. Bei Meno blieb es in der Familie, und seine Kritik war die laut ausgesprochene Mahnung der eigenen inneren Stimme, die Christian nur in der Hoffnung, bequem durchzukommen, unterdrückt hatte. Es hieß, eben nicht zu sagen: Dieser Schmetterlingsflügel ist mittelgroß, sondern auf Menos Bemerkung, worauf sich denn das »mittel«groß beziehe, genauer zu werden: Dieser Schmetterlingsflügel ist streichholzschachtelgroß. Dann sagte Meno: Überprüfe deine Vorstellungen von Schönheit; doch wenn er Christian mit wissenschaftlicher Kühle erklärte, es seietwas Schönes, ein Lineal an Farben anlegen zu können, in einem Zirkelkreis und auf einer Millimeterskala etwas so Weich-Flüchtiges wie diesen zyklamenfarbigen Nachtfalter aus dem mittleren Kongo festzuprüfen, dann spürte Christian einen Abstand, einen Vorbehalt in seiner Bereitschaft, seinem Onkel zu folgen, eine Trübung: als sähe er eine klare geometrische Figur, hart gezeichnet von einem aus tausenden Quarzfasern gebündelten Licht, aber plötzlich seien einige dieser Lichtfasern abgebrochen, wodurch die Figur ein feines Parallelogramm bekam,
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