Der Turm
welche haben, auf ihren Jäckchen kleben«. Er bevorzugte die unscheinbaren, von denen Alvarez auch einige gesammelt hatte; sie hingen in einem zweiten Kasten vor der Etage der Stenzel-Schwestern, wo die Treppe in die Glastür mündete. An dieser Stelle herrschte Grau-Helligkeit, die durch das Oberlicht des Treppenzylinders diffundierte: eine siebenblättrige Glasblume, in ihrer Mitte hing ein Leuchter wie ein übermäßig in die Länge gedehntes Staubgefäß. Es war eine Reihe von Nachtfaltern, holzfarbenen Saturniiden mit Trugaugen, »aus dem Geschlecht des Bleigotts, und hier: Das sind ihre Wasserzeichen«, Meno wies auf die Maserung der papierdünnen Flügel, die Christian an die Wellenringe nach einem Steinwurf in einen stillen Teich erinnerte. Sie schienen sich über die einzelnen Schmetterlinge fortzusetzen und sie in ein größeres Bild zu fügen, von dem sie nur Teile waren, als gehörten sie zu einem Puzzle. Sie sahen einander sehr ähnlich, nur wenn man genau beobachtete, traten die winzigen Differenzen zwischen den einzelnen Faltern hervor. »Das sind die Orchesterpartien, an die der Komponist die größte Sorgfalt verwendet hat, obwohl sie vom Publikum kaum gehört werden; aber gerade sie sind ihm wichtig, und man könnte ihm kein größeres Kompliment machen, als gut zuzuhören, denn wozu sonst ist Musik da, wenn nicht zum Zuhören. Diese Flecken von Purpur, Rostgrün und Flieder, dieses Blau, das so intensiv ist, daß es auf einer Zitrone erscheinen könnte: das sind Effektstellen, wie sie italienische Belcanto-Komponisten mögen und das durchschnittliche Opernpublikum liebt, das ins Theater nicht geht, um zuzuhören, sondern um zu sehen, in der Pause zu flanieren, sich über die Preise der Schnittchen und Cocktails zu erregen, und gesehen zu werden; das schon von vornherein die ›berühmte Stelle‹ kennt, wo der Tenor alle Kräfte zusammenreißt, um das Hohe C und das, was danach folgt, zu stemmen; mich aber interessieren die unscheinbaren Gewebe, die Tarnungen, Übergänge; Camouflage und Mimikry; die Bauart der Betten, in denen die Motive liegen, diese ›schönen‹, manchmal eben allzu schönen Prinzessinnen. Mich interessiert nicht nur die Beletage, sondern auch Kohlenkeller, Küche und, um im Bild zu bleiben, Dienerschaft in derKomposition«. So Meno. Christian dachte darüber nach. Wie damals, bei den Besuchen beim Maler Vogelstrom im Spinnwebhaus, als er die Namen Merigarto und Magelone gehört und seither nicht mehr vergessen hatte, blieb ihm auch von diesen Gesprächen mit Meno etwas zurück, das in ihm weiterwirkte, das er spürte wie einen Fremdkörper, der in ihn eingedrungen war und ihn veränderte, und er forschte in Stunden wie diesen, um ihn einzukreisen, abzutasten, zu beobachten, ob er schädlich sein würde oder nützlich.
Das Grammophon der Stenzel-Schwestern war verstummt. Der Westminster-Gong erklang viermal, dann zwei Schläge: vierzehn Uhr. Bald würde Anne von der Arbeit kommen und Robert aus der Schule. Dann kämen Stimmen, Geräusche, Unruhe auf; die Karavelle würde zurückfließen in Traum und Ferne, die Erinnerungen in Magellans Fernrohr. Christian schloß die Augen. Er dachte an Verena.
22.
Enöff
Abends kamen Rohdes zu Besuch. »Na, krank?« fragte Ina, die einen Hauch von »Koïvo«-Deodorant hereintrug, und Christian schämte sich, daß er nicht gelüftet hatte. Ina setzte sich auf die Bettkante, ließ ihren Blick über Roberts Fußbälle, Terence Hill und Ornella Muti schweifen, schlug die Beine übereinander, wippte mit dem Fuß. Sie trug hochhackige Pumps, Netzstrumpfhosen und Mini. »Und, wie geht’s so?«
»Ganz gut, und dir?«
»Viel Streß im Studium. – Doofes Zimmer.«
Christian schwitzte, zog aber die Decke übers Kinn, weil dort ein Pickel brannte. Im Korridor war Stimmenlärm; Ulrich kam herein. »Was verschreibt er dir, Fernau, der trunkne Schuft?« Ulrich streckte die Hand aus, die linke, wie so oft fiel Christian darauf herein und griff an den Handrücken; Ulrich liebte solche Scherze.
»Papa.« Ina hob enerviert die zu schmalen Bögen ausgezupften Augenbrauen. »Wer treibt hier üble Nachrede?«
»Ach was, diese Schnapsdrossel … Eine Wut habe ich auf den, eine Wut, eine Wut! Ich kann dir gar nicht sagen, was für eine Wut das ist! Hier!« Er zeigte Christian den geröteten rechten Zeigefinger. »Hat er als ›Schwellung unbekannter Herkunft‹ behandelt, Differentialdiagnose ›Folgen eines nicht erinnerlichen Hammerschlags‹ – ja,
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