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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Breitfront des Zwingers schnüffelte, und Mimi elegant ihre gerollte Rechte schleckte; Marcel heulte und biß in sein Spielzeug, einen Stoffkolben, aber es nützte ihm nichts.
    In der Kohlenhandlung hinter Griesels Garten wurden Briketts geschippt, vertraute Geräusche: ein scharfes Anschneiden des Kohlehaufens, Metall ratschte über Beton, dann polterten die Kohlen in große Blechwaagen, die Schaufeln wurden kurz abgeklopft, kratzten Grus zusammen, nahmen schlitternden Anlauf, schnitten wieder scharf in die Kohlen hinein, ein wenig wütend, ein wenig hinterhältig, ein wenig besessen in den selbstbewußten Schwielenhänden von Plisch und Plum, wie die Gehilfen der Handlung im Viertel genannt wurden, Christian hatte noch nie ihre richtigen Namen gehört, der eine war lang und spindelig gebaut, der andere kurz und viereckig, Tante Barbara sagte: ein Koffer auf zwei Beinen; und wenn ein Zentner voll war, rumpelten die Briketts aus den blanken Rinnen in Rupfensäcke, die Hauschild, der verwachsene, knorrige Kohlehändler, aus dessen schwarzverschmiertem Gesicht wasserblaue Augen leuchteten,zum Schuppen vorn an der Rißleite schleppte, wo die Kunden warteten.
    Christian ging wieder ins Bett. Das Licht war weitergewandert, die Wolkenweberei, die seit Sonnabend graue Wolle über den Himmel strickte, riß an einer Stelle auf und schickte Sonnenstrahlen ins Zimmer: Da war Roberts Tisch, die verstreuten Fußballbilder, die von Niklas geliehenen Olympia-Fotobücher, dahinter, rechtwinklig zum Fenster gestellt, sein eigener Schreibtisch mit dem Schrägpult darauf, das er sich vor Jahren aus Holzresten und zwei bei Matthes, der Papierwarenhandlung vorn an der Bautzner Straße, gekauften Reißbrettern selbst gebastelt hatte, und hinter dem Tisch gleich der Schrank mit den Büchern, kaum einen Meter entfernt. Die hohen und massigen, dunkelbraunen Furnierholzschränke, Wohnraum-Typensatz, Modell RUND 2000, aus dem VEB Möbelwerke Hainichen, die zu fünft entlang der Wände standen, nur eben Platz für eine Couch, die Schreibtische und das Bett ließen – Roberts mußte ausgezogen werden –, erdrückten das Zimmer mit ihrer dunklen Massivität. Er liebte das Zimmer nicht, denn es bestand aus diesen schweren Schränken im Geviert und aus der teppichbelegten Leere dazwischen, die von der Tür sofort einsehbar war; es hatte etwas von einem Käfig, dessen Inhalt man mit einem Blick erfassen konnte. Die Poster an der Wand wirkten wie Fremdkörper, von Anne mehr geduldet als gewünscht, ebenso das Netz mit Fuß- und Handbällen und Roberts Fußballschuhen, das an einem Haken über dem Türende des Betts hing. Christian schloß die Augen, lauschte, mußte eingeschlafen sein, denn er erschrak vom Stundengong der Wohnzimmeruhr. Das Gartentor krachte, gleich darauf schrillte Griesels Klingel: Das war Mike Glodde, der Briefträger mit den schielenden Augen und der Hasenscharte, der mit Griesels mittlerer Tochter verlobt war und ihnen die Post ins Haus brachte; aber nur ihnen, für die anderen gab es am oberen Ende der Heinrichstraße die Zentral-Schließfächer, die die Post eingerichtet hatte, um ihren Briefträgern die weiten Wege zu verkürzen; wer wollte auch noch Briefträger werden in dieser Phase des gesetzmäßigen Übergangs vom »Soz.« zum »Komm.«, und Christian lächelte, als er Briefträger Gloddes Ruf nach »Mar-zel!« hörte; elf Uhr: Die Physikstunde war um, undStabenow schloß mit seiner stehenden Unterrichtsbeendigungsformel: »Und jetzt denkt mal über alles nach – warum! Warum! Wa-rum!«
    Im Haus flatterte Musik, eine Melodie voller Wehmut und tapferer Sentimentalität, gesungen von einem Männerchor: Das waren die Comedian Harmonists. Die Stimme des Tenors kurvte nach oben, Leschnikoffs schmiegsames Timbre, wie aus Glacé; Christian beugte sich zur Wand, legte das Ohr an die Tapete, jetzt waren auch die tieferen Stimmen besser zu hören. Das war das Grammophon der Stenzel-Schwestern, und immer im gleichen Abstand machte die Platte einen butterweichen Schlenker. Schritte und Gepolter mischten sich in die Musik, wahrscheinlich turnten die Stenzel-Schwestern ihre Übungen … Sie waren in ihrer Jugend Voltigierreiterinnen gewesen, beim Zirkus Sarrasani. Mein kleiner grüner Kaktus – steht draußen am Balkon – hollari, hollari, hollaro … Er legte sich wieder hin. Das Fieber kam zurück, die Gliederschwäche. Zwei der drei Stenzel-Schwestern wohnten oben, die dritte Schwester, die älteste, hatte ein Zimmer bei

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