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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Wortlosigkeit und gequält von der Anstrengung, Menos Forderungen nach beschreibender Präzision zu erfüllen, kurzen Prozeß machen wollte, indem er dieses Wort gebrauchte, um etwas zu charakterisieren, das ihn auf noch unerklärliche Weise faszinierte. »Du gebrauchst es wie eine Fliegenklatsche, denn Totschlag ist natürlich auch eine Methode, etwas zu bannen«, bemerkte Meno dazu, »aber damit umkreist du nur deine Hilflosigkeit, wie es schlechte Schriftsteller tun, die nicht fähig sind, ein Phänomen zu erzeugen – was der eigentlich schöpferische Akt wäre –, sondern nur dazu imstande sind, über das Phänomen zu reden; eben ›Magie‹ zu sagen, statt aus Worten etwas herzustellen, das sie hat«. In solchen Momenten war Christian von Fremdheit angeweht, die ihn bedrückte, er wußte nicht, warum Meno so streng sein mußte, und fand auch die Zuneigung in der Unerbittlichkeit nicht, mit der Meno ihn und seine abstrebenden Gedanken vor diesem Schaukasten festhielt, dessen Inhalt die atemstockende Berührung, die Ahnung einer Jagd, die er empfand, wenn er vorüberging und einige Sekunden seine Blicke auf den bunten Pharaonen spazierengehen ließ, bei Menos eine Stunde oder länger währendem Exerzitium nicht mehr schickte. Diesen stillen Blitz, der ihn traf, wenn er vorübergehen wollte, aber etwas öffnete sich und bildete ein großes saugendes Tor, in dem alles verschwand, woran er in diesem Moment gedacht hatte: die Schule, ein Fußballspiel, die Tomita-Schallplatte, die Bewerbung um einen Medizinstudienplatz mit Abschluß der elften Klasse, manchmal die Form eines verschütteten Milchtropfens oder die Nummer von Tietzes Shiguli. All das wurde aus ihm herausgezogen und ließ ihn mit geweiteten Augen und offenem Mund, der auszuatmen vergaß, zurück. Christian spürte zwar, daß Meno mit ihm über diese Phase hinausgelangen wollte, die Lippen, die ihm unsichtbar flüsterten, sollten sich wieder versiegeln, die Bilder wieder erblinden, aber er sah keinen Sinn darin, die Farben stumpf und die kleine Partitur aus Formenschal werden zu lassen. Oft war es Meno, der abbrach. In dieser Sekunde, in der sein Onkel den Kopf sinken ließ und sich mit Daumen und Zeigefinger über die geschlossenen Augen rieb, kehrte die Zuneigung jäh zurück, als wäre sie nur in elastischem Material weggedehnt gewesen und würde jetzt wieder losgelassen. Es mußte noch etwas anderes geben als nur die Überwältigung durch einen Kommandeur der Sekunde, und danach schien Meno mit den Werkzeugen seiner Exaktheit auf der Suche zu sein. Christian kam es wie ein vorsätzliches Abrücken von tiefeingewurzelten Überzeugungen vor, eben darum, weil sie tiefeingewurzelte Überzeugungen waren. Vielleicht trugen sie nicht mehr, oder Meno wollte weiter und sah es als Größe, nicht als Kapitulation, dafür jeden Preis zu zahlen. Er spürte, daß sein Onkel deshalb so unnachsichtig sein mochte, weil er diese Überzeugungen bei ihm, Christian, wiederfand, etwas, das unbekümmert wiederkehrte und das er selbst nur allzugut kennen und seit langem, aus einer anderen Überzeugung heraus, bekämpfen mochte. Die, weil sie ihm nicht eingeboren war, etwas Heroisches annahm. Und Mißtrauen enthalten konnte gegen die »Sprache des Herzens«, wie Meno das mit hölzernen Lippen nannte, die Anführungszeichen mitsprechend. Vielleicht war es eine Berufskrankheit des Wissenschaftlers und Lektors, denn die »Sprache der unsentimentalen Beobachtung«, die Meno dagegenstellen wollte – wollte er es tatsächlich? –, empfand Christian als fremd, wenngleich er manchmal darüber nachdachte, denn »groß wie eine Streichholzschachtel« war tatsächlich anschaulicher und treffsicherer als »mittel«groß. Dennoch faszinierten ihn immer zuerst die Farben und nicht die Tönungen, brannte ihm zuerst das Offensichtliche einen Stempel ein und nicht das Hintergründige, und mochte das auch logisch erscheinen, denn das Hintergründige wäre ja nicht hintergründig gewesen, wenn man es sofort erfaßt hätte, so ging es doch um das, was ihm Eindruck machte, und der seltenste und auf seine Art absonderlichste Falter, der unscheinbar aussah, ließ ihn ziemlich gleichgültig, wenn er daneben ein Exemplar sah, das wie ein fliegendes Tuschkästchen wirkte, und mochte es auch, was die Häufigkeit betraf, gewissermaßen der Kohlweißling der Tropen sein. Meno tadelte seinen Sinn, er war wenigerden Exemplaren zugetan, denen, wie er sagte, »alle ihre Geheimnisse, wenn sie überhaupt

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